Das Buch der Geister

Allan Kardec

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KAPITEL XII
MORALISCHE VERVOLLKOMMNUNG

1. Tugenden und Laster. * – 2. Von den Leidenschaften. – 3. Vom Egoismus.
– 4. Merkmale der rechtschaffenen. – 5. Menschen Selbsterkenntnis.


* In der 2. französischen Auflage (1860) lautete dieser Untertitel „Verschiedene moralische Aspekte“. Ab der 5. Auflage (1861) hat Allan Kardec die oben erwähnte Überschrift benutzt. (Anmerkung der Übersetzer.)


Tugenden und Laster.


893. Welches ist die verdienstlichste aller Tugenden?

„Alle Tugenden sind verdienstlich, weil sie alle Zeichen des Fortschritts auf dem Weg des Guten sind.

Tugend findet jedes Mal statt, wenn freiwilliger Widerstand gegen schlechten Neigungen stattfindet. Das Erhabene der Tugend aber besteht in dem Opfer des persönlichen Interessen für das Wohl des Nächsten, und zwar ohne Hintergedanken. Die verdienstlichste Tugend ist die, welche auf selbstloseste Nächstenliebe gegründet ist.“

894. Es gibt Leute, die das Gute aus freiwilligem Antrieb tun, ohne dass sie irgendein entgegengesetztes Begehren zu besiegen hätten. Haben nun diese ebenso viel Verdienst wie die, welche gegen ihre eigene Natur kämpfen und sie erst überwinden müssen?

„Bei denen, welche nicht zu kämpfen haben, hat sich der Fortschritt schon früher erfüllt. Sie haben früher schon gekämpft und überwunden; darum kosten ihnen die guten Gefühle keine Anstrengung und ihre Handlungen erscheinen ihnen ganz einfach und selbstverständlich; das Gute ist für sie eine Gewohnheit geworden. Man soll sie darum ehren wie alte Krieger, die ihre Grade sich erkämpften.

Da ihr noch weit von der Vollkommenheit entfernt seid, so wundern euch diese Beispiele durch ihren Kontrast und ihr bewundert sie umso mehr, je seltener sie vorkommen. Wisset jedoch, dass auf den fortgeschritteneren Welten als die eurige das, was bei euch eine Ausnahme ist, die Regel bildet. Das Gefühl und Begehren des Guten ist dort überall ein freiwilliges, weil da nur gute Geister wohnen und eine einzige schlechte Absicht wäre eine ungeheuerliche Ausnahme. Darum sind die Menschen dort glücklich. So wird es auch auf Erden sein, wenn das Menschengeschlecht sich umgewandelt hat, und die Nächstenliebe in ihrem wahren Sinne verstanden und geübt wird.“

895. Welches ist, abgesehen von den Fehlern und Lastern, über die niemand im Irrtum sein kann, das am meisten charakteristische Kennzeichen der Unvollkommenheit?

„Es ist das persönliche Interesse. Die moralische Eigenschaften gleichen oft der auf einem kupfernen Gegenstand angebrachten Vergoldung, die dem Probierstein nicht widersteht. Ein Mensch kann tatsächlich Eigenschaften haben, die ihn für die Welt zum rechtschaffenen Menschen stempeln; sind dieselben aber auch ein Fortschritt, so vertragen sie nicht immer gewisse Prüfungen und zuweilen genügt es, an die Saite des persönlichen Interesses zu rühren, um den Hintergrund abzudecken. Die wahre Selbstlosigkeit ist auf der Erde eine so seltene Sache, dass man sie, wenn sie sich wirklich zeigt, wie ein Phänomen bewundert.

Die Anhänglichkeit an die materiellen Dinge ist ein sicheres Zeichen der Niedrigkeit, da der Mensch, je mehr er an den Dingen dieser Welt hängt, desto weniger seine Bestimmung erkennt. Durch Selbstlosigkeit dagegen beweist er, dass er von einem erhabeneren Standpunkt aus in die Zukunft schaut.“

896. Es gibt uneigennützige Leute ohne Unterscheidungsvermögen, die ihre Habe ohne wirklichen Nutzen verschwenden, da sie keinen vernünftigen Gebrauch davon machen. Haben diese irgendein Verdienst?

„Sie haben das Verdienst der Uneigennützigkeit, aber kein Verdienst um das Gute, das sie tun könnten. Ist die Uneigennützigkeit eine Tugend, so ist die unüberlegte Verschwendung stets wenigstens ein Mangel an Urteilungskraft. Vermögen wird dem einen ebenso wenig dazu verliehen, um es in alle Winde zu zerstreuen, als dem andern um es in einer Geldkiste zu vergraben: Es ist ein anvertrautes Gut, worüber sie Rechenschaft werden zu geben haben, denn sie werden sich über jegliches Gute zu verantworten haben, das sie hätten tun können, aber nicht getan haben, – über alle Tränen, die sie hätten trocknen können mit dem Geld, das sie denen gaben, die dessen nicht bedurften.“

897. Ist der tadelnswert, der das Gute nicht mit Hinblick auf Belohnung hier auf Erden tut, sondern in der Hoffnung, dass es ihm im andern Leben zugute kommen und dass dort seine Lage eine um so bessere sein werde, und schadet ihm dieser Gedanke in seinem Fortschritt?

„Man muss das Gute aus Nächstenliebe tun, d.h. mit Uneigennützigkeit.

897a. Dennoch hat jeder den Wunsch, vorwärts zu schreiten, um aus diesem mühevollen Leben herauszukommen: Die Geister selbst lehren uns das Gute zu diesem Zweck zu üben. Ist es nun deswegen vom Übel, wenn man denkt, dass man, wenn man das Gute tut, Besseres als auf Erden erhoffen dürfe?

„Gewiss nicht, wer aber das Gute ohne Hintergedanken tut und aus reiner Lust, Gott und seinem leidenden Nächsten angenehm zu sein, befindet sich schon auf einer Stufe des Fortschritts, die ihn viel schnell das Glück erreichen lassen wird, als seinen Bruder, der praktischer die Dinge anfassend, das Gute aus Berechnung tut und nicht von der natürlichen Wärme seines Herzens dazu sich angetrieben fühlt.“ (894.)

897b. Muss man da nicht unterscheiden zwischen dem Guten, das man seinem Nächsten erweisen kann und der Mühe, die man sich gibt, sich von seinen Fehlern zu bessern? Wir begreifen, dass Gutes zu tun mit dem Gedanken, es werde uns dafür im anderen eben Rechnung getragen werden, wenig Verdienstliches hat; aber sich selbst bessern, seine Leidenschaften bezwingen, seinen Charakter veredeln in der Aussicht, sich so den guten Geistern zu nähern und sich zu erhöhen, ist das auch ein Zeichen von Niedrigkeit?

„Nein, nein, mit Gutes tun, meinen wir Nächstenliebe üben. Wer da berechnet, was jede gute Handlung ihm im künftigen oder auch im jetzigen Leben eintragen kann, handelt als ein Egoist: es ist aber keinerlei Egoismus sich zu bessern, in der Aussicht, sich Gott zu nähern, weil dies das einem jeden vorgesteckte Ziel ist.“

898. Da das leibliche Leben nur ein zeitweiliger Aufenthalt hier auf Erden ist und da unsere Zukunft unsere hauptsächliche Beschäftigung sein soll, ist es da noch von einigem Nutzen, sich um die Erwerbung wissenschaftlicher Kenntnisse zu mühen, die nur materielle Dinge und Bedürfnisse betreffen?

„Ohne Zweifel. Zunächst setzt euch dies in den Stand, eure Brüder zu unterstützen, sodann wird euer Geist sich schneller erheben, wenn er schon in der Intelligenz fortgeschritten ist. In dem Zwischenraum zwischen den verschiedenen Inkarnationen werdet ihr in einer Stunde so viel lernen, als in Jahren auf der Erde. Keine Kenntnis ist unnütz. Alle tragen mehr oder weniger zum Fortschritt bei, weil der vollkommene Geist alles wissen muss und weil, da der Fortschritt sich nach allen Richtungen erfüllen soll, alle erworbenen Ideen zur Entwicklung des Geistes beitragen.“

899. Von zwei reichen Menschen ist der eine im Reichtum geboren und hat nie ein Bedürfnis empfunden, der andere verdankt sein Vermögen seiner Arbeit. Beide verwenden dasselbe zu ihrer persönlichen Befriedigung: Welcher ist nun der Schuldigere?

„Der, welcher das Leiden kennen lernte; er weiß, was Leiden heißt, er kennt den Schmerz und mildert ihn nicht, aber leider nur zu oft gedenkt er desselben nicht mehr.“

900. Wer unaufhörlich zusammenrafft ohne jemanden Gutes zu tun, liegt für diesen eine gültige Entschuldigung in seinem Gedanken, dass er zusammenraffe, um desto mehr seinen Erben zu hinterlassen?

„Das ist ein Abkommen mit seinem bösen Gewissen.“

901. Von zwei Geizigen versagt sich der eine das Notwendige und stirbt auf seinem Schatz Hungers, der andere ist nur gegenüber anderen geizig, gegen sich selbst aber verschwenderisch. Während dieser vor dem geringsten Opfer zurückbebt, wenn er einen Dienst erweisen oder überhaupt etwas Nützliches tun soll, so kennt er keinen Geldeswert, wenn er seine Neigungen und Leidenschaften befriedigen will. Ersucht man ihn um einen Dienst, so ist er stets in Verlegenheit; will er eine seiner Launen befriedigen, so hat er stets genug. Welcher ist der Schuldigere und welcher wird in der Geisterwelt den schlechtesten Platz einzunehmen haben?

„Der, welcher genießt: Er ist mehr selbstsüchtig als geizig. Der andere hat bereits einen Teil seiner Strafe gefunden.“

902. Ist es tadelnswert, andere um ihren Reichtum zu beneiden, wenn es aus dem Wunsch geschieht, Gutes tun zu können?

„Das Gefühl ist ohne Zweifel löblich, wenn es rein ist. Ist es aber auch immer ganz selbstlos und verbirgt es keinen persönlichen Hintergedanken? Ist nicht oft die erste Person, der man Gutes zu erweisen wünscht, das liebe Ich?“

903. Ist es strafbar, die Fehler der anderen zu untersuchen?

„Geschieht es um dieselben zu verurteilen und bekannt zu machen, so ist man sehr strafbar, denn das ist Mangel an Nächstenliebe. Geschieht es, um selbst daran zu lernen und sie selbst zu vermeiden, so mag dies zuweilen von Nutzen sein. Man darf aber nicht vergessen, dass Nachsicht gegen die Fehler der anderen eine der Tugenden ist, die zur Nächstenliebe gehören. Bevor ihr anderen ihre Unvollkommenheiten vorwerft, seht, ob man nicht euch dasselbe sagen könnte. Trachtet also nach Eigenschaften, die den Fehlern, die ihr an anderen verurteilt, entgegengesetzt sind, das ist das richtige Mittel, euch höher zu stellen. Dem Geizigen stellt eure Freigebigkeit, dem Hartherzigen eure Güte gegenüber und gegen den Kleinlichen zeigt euch groß, kurz tut so, dass man auf euch nicht Jesu Worte anwenden kann: Ihr seht den Splitter in des Nächsten Auge und den Balken im eigenen seht ihr nicht.“

904. Ist man strafbar, die Schäden der Gesellschaft zu studieren und zu enthüllen?

„Das hängt vom Gefühl ab, das dazu antreibt. Hat der Verfasser nur die Absicht, Ärgernis zu erregen, so ist das ein persönliches Vergnügen, das er sich mit Schilderungen bereitet, die oft eher ein schlechtes als ein gutes Beispiel abgeben. Der Geist mag zwar richtig urteilen, aber er kann für diese Art von Freude an der Enthüllung des Schlechten gestraft werden.“

904a. Wie kann man in einem solchen Fall sich über die Reinheit der Absichten und die Lauterkeit des Schriftstellers ein Urteil bilden?

„Das ist oft nicht einmal nützlich: Schreibt er gute Sachen, so zieht daraus euren Nutzen; macht er es schlecht, so ist das eine ihn allein angehende Gewissensfrage. Ist ihm übrigens daran gelegen, seine Aufrichtigkeit zu beweisen, so ist es an ihm, seine guten Lehren durch sein eigenes Beispiel zu unterstützen.“

905. Gewisse Schriftsteller haben sehr schöne und sehr moralische Werke herausgegeben, die dem Fortschritt der Menschheit förderlich sind, aus denen sie aber für sich selbst keinen Nutzen zogen. Wird ihnen nun als Geister für das durch ihre Werke gestiftete Gute Rechnung getragen?

„Moral ohne Taten heißt Samen ohne Arbeit. Was nützt euch der Samen, wenn ihr ihn nicht Früchte bringen lässt, um euch zu nähren? Diese Menschen sind noch strafbarer, denn sie hatten die Intelligenz, um zu erkennen: Indem sie die von ihnen für die anderen aufgestellten Grundsätze nicht selbst ausübten, verzichteten sie darauf, deren Früchte zu ernten.“

906. Ist der, welcher gut handelt, zu tadeln, wenn er sich dessen bewusst ist und es sich selbst eingesteht?

„Da er das Bewusstsein des Bösen, das er tut, haben kann, so muss er auch das des Guten haben, damit er weiß, ob er gut oder böse handelt. Wenn er alle seine Handlungen in der Waage des Gesetzes Gottes und namentlich in der des Gesetzes der Gerechtigkeit, der Menschen und Nächstenliebe wägt, so wird er sich sagen können, ob sie gut oder böse seien, und wird sie billigen oder missbilligen. Er ist also nicht zu tadeln, wenn er anerkennt, dass er über schlechte Neigungen gesiegt und wenn er sich davon befriedigt fühlt, vorausgesetzt, dass er darauf nicht eitel wird, denn dann würde er in einen anderen Fehler verfallen.“ (919.)

Von den Leidenschaften.

907. Ist das Prinzip der Leidenschaften, da es in der Natur liegt, an und für sich böse?

„Nein, die Leidenschaft liegt in dem, mit dem Willen verbundenen Übermaß; denn ihr Prinzip war dem Menschen zum Guten verliehen und sie können ihn zu großen Dingen führen. Der Missbrauch erst erzeugt das Übel.“

908. Wie kann man die Grenze bezeichnen, wo die Leidenschaften aufhören, gut oder böse zu sein?

„Die Leidenschaften gleichen einem Pferd, das nützlich ist, wenn es bemeistert wird, und gefährlich, wenn es selbst den Meister spielt. Merkt euch somit, dass eine Leidenschaft von dem Augenblick an gefährlich wird, wo ihr sie nicht mehr beherrschen könnt, und dass dieselbe dann jedenfalls, sei es für euch oder andere, einen Nachteil mit sich führt.“

Die Leidenschaften sind Hebel, die die Kräfte des Menschen verzehnfachen und ihn bei der Erfüllung der Absichten der Vorsehung unterstützen. Lässt sich aber der Mensch statt sie zu lenken, selbst von ihnen lenken, so verfällt er ins Übermaß und in Ausschreitungen und dieselbe Kraft, die in seiner Hand Gutes stiften konnte, wendet sich gegen ihn und vernichtet ihn. Alle Leidenschaften haben ihr Prinzip in einem natürlichen Gefühl oder Bedürfnis. Ihr Prinzip ist also nicht ein Übel, da es auf einer der von der Vorsehung geschaffenen Bedingungen unseres Daseins beruht. Die Leidenschaft im eigentlichen Wortsinn ist die Übertreibung eines Bedürfnisses oder eines Gefühls. Sie liegt im Übermaß und nicht in der Ursache, und dieses Übermaß wird zum Übel, wenn es irgendein Übel zur Folge hat. Jede Leidenschaft, die den Menschen der tierischen Natur nähert, entfernt ihn von der geistigen. Jedes Gefühl, das den Menschen über die tierische Natur erhebt, verkündigt die Oberherrlichkeit des Geistes über den Stoff und nähert ihn der Vollendung.

909. Sollte der Mensch seine bösen Neigungen immer durch eigene Kraft meistern können?

„Ja, und zuweilen mit nur geringer Anstrengung. Es fehlt ihm nur der Wille. Ach, wie wenige von euch strengen sich an!“

910. Kann der Mensch in den Geistern eine wirksame Hilfe finden zur Bemeisterung seiner Leidenschaften?

„Wenn er Gott und seinen Schutzgeist aufrichtig bittet, so werden die guten Geister ihm gewiss zu Hilfe kommen, denn das ist ihre Sendung.“ (459.)

911. Gibt es nicht so starke und so unwiderstehliche Leidenschaften, dass der Wille sie zu besiegen, ohnmächtig bleibt?

„Es gibt viele Leute, die da sprechen „Ich will“, aber der Wille ist nur auf ihren Lippen: Sie wollen etwas und sind innerlich froh, wenn es nicht geschieht. Wenn man seine Leidenschaften nicht glaubt überwinden zu können, so geschieht dies nur, weil der Geist infolge seiner tiefen Stufe sich darin gefällt. Wer sie zurückzudrängen sucht, erkennt seine geistige Natur; bei einem solchen Menschen ist ihre Überwindung ein Sieg des Geistes über den Stoff.“

912. Was ist das wirksamste Mittel, die Vorherrschaft der leiblichen Natur zu bekämpfen?

„Entsagung zu üben.“

Vom Egoismus.

913. Was ist die Wurzel alles Bösen?

„Wir sagten es schon oft: der Egoismus. Aus ihm stammt alles Böse. Durchsucht alle Erscheinungen des Bösen und ihr werdet entdecken, dass ihnen allen der Egoismus zugrunde liegt. Ihr könnt die Fehler, die Laster lange bekämpfen, es wird euch nicht gelingen, sie auszurotten, solange ihr das Übel nicht an seiner Wurzel angreift, solange ihr nicht seine Ursache zerstört. Mögen daher alle eure Bemühungen auf dieses Ziel gerichtet sein, denn hier findet sich die wunde Stelle der Gesellschaft. Wer immer schon in diesem Leben sich der moralischen Vollendung nähern will, der muss aller Egoismus aus dem Herzen reißen, denn Egoismus verträgt sich nicht mit Gerechtigkeit und Menschenliebe, er hebt alle guten Eigenschaften auf.“

914. Da der Egoismus auf dem persönlichen Interessen gegründet ist, so scheint es sehr schwer, ihn ganz aus des Menschen Herzen zu reißen. Wird man je dazu gelangen?

„Je mehr sich die Menschen über die geistigen Dinge aufklären, desto weniger Wert werden sie auf die materiellen Dinge legen. Sodann müssen die menschlichen Einrichtungen, welche den Egoismus reizen und unterhalten, verbessert werden. Dies ist Sache der Erziehung.“

915. Da der Egoismus vom Menschengeschlecht unzertrennlich ist, wird er dann nicht stets ein Hindernis bleiben für die Herrschaft des unbedingt Guten auf der Erde?

„Es ist wahr, dass der Egoismus euer größtes Übel ist, aber er liegt in der Niedrigkeit der auf der Erde inkarnierten Geister und nicht in der Menschheit als solche. Wenn sich nun die Geister durch eine Reihe von Inkarnationen reinigen, so verlieren sie den Egoismus, so wie sie ihre anderen Unreinheiten verlieren. Habt ihr denn auf Erden gar keinen Menschen ohne Egoismus, der Nächstenliebe übt? Es gibt deren mehr, als ihr glaubt.

Aber ihr kennt sie kaum, weil die Tugend sich nicht an das Licht des hellen Tages drängt. Gibt es einen, warum sollte es deren nicht zehn geben? Gibt es deren zehn, warum sollten deren nicht tausende zu finden sein und so weiter?“

916. Der Egoismus, weit entfernt abzunehmen, nimmt mit der Zivilisation zu, wird durch sie geweckt und unterhalten. Wie soll nun die Wirkung durch die Ursache vernichtet werden?

„Je größer das Übel, desto hässlicher wird es. Der Egoismus muss viel Übel und Unglück anrichten, um die Notwendigkeit ihrer Ausrottung darzutun. Werden die Menschen einst den Egoismus abgelegt haben, so werden sie leben wie Brüder, sich nichts Böses zufügen und sich einander im Gefühl wechselseitiger Verpflichtung beistehen. Dann wird der Starke die Stütze und nicht der Unterdrücker des Schwachen sein und man wird keine Menschen mehr am Notwendigen Mangel leiden sehen, weil sie alle das Gesetz der Gerechtigkeit üben werden. Das ist die Herrschaft des Guten, welche die Geister vorzubereiten haben.“ (784.)

917. Welches ist das Mittel, den Egoismus auszurotten?

„Von allen menschlichen Unvollkommenheiten ist der Egoismus am schwersten auszurotten, weil er auf dem Einfluss des Stoffes beruht, von welchem letzterem, der seinem Ursprung noch zu nahestehende Mensch sich nicht hat befreien können, und dieser Einfluss und alles wirkt zusammen ihn zu unterhalten: Seine Gesetze, seine gesellschaftliche Organisation, seine Erziehung. Der Egoismus wird abnehmen, je mehr die Vorherrschaft des über das stoffliche Leben zunimmt und besonders je weiter sich die Erkenntnis eures künftigen wirklichen nicht durch bloße Bilder entstellten Zustandes, durch den Spiritismus verbreiten wird. Der richtig verstandene Spiritismus wird, wenn er sich einmal mit Sitten und Glauben vereinigt hat, die gesellschaftlichen Gewohnheiten, Gebräuche und Beziehungen umwandeln. Der Egoismus gründet sich auf die Wichtigkeit, die wir unserer Person beilegen; nun lässt aber der Spiritismus – d.h. der richtig verstandene, ich wiederhole es – die Dinge von so hohem Standpunkt aus erblicken, dass das Gefühl der Persönlichkeit gewissermaßen vor der Unendlichkeit verschwindet. Indem der Spiritismus jene Wichtigkeit vernichtet oder sie wenigstens als das erscheinen lässt, was sie ist, bekämpft er notwendig den Egoismus.

Was den Menschen oft selbst zum Egoisten macht, das ist, dass er sich vom Egoismus der anderen verletzt fühlt, denn dann fühlt er das Bedürfnis, auf seinen Schutz zu sinnen. Wenn er sieht, dass die andern nur an sich und nicht an ihn denken, so führt ihn dies dazu, sich mehr mit sich als mit den anderen zu beschäftigen. Man mache das Prinzip der Menschen- und Bruderliebe zur Grundlage der gesellschaftlichen Einrichtungen, der gesetzlichen Beziehungen von Volk zu Volk und von Mensch zu Mensch und der Mensch wird weniger an seine eigene Person denken, wenn er sieht, dass andere an sie gedacht haben: Er wird den moralischen Einfluss des Beispiels und des Umgangs fühlen. Gegenüber dieser Überflutung des Egoismus bedarf es einer wahrhaftigen Tugend, um seine eigene Person zu Gunsten der andern zurück zu nehmen, die oft genug es einem nicht einmal danken. Denen hauptsächlich, die diese Tugend besitzen, öffnet sich das Himmelreich. Ihnen vor allen ist die Seligkeit der Auserwählten vorbehalten; denn wahrlich ich sage euch, am Tag des Gerichts wird jeder, der nur an sich selbst gedacht hat, hinausgeworfen und Pein leiden in seiner Verlassenheit.“ (785.)

(Fénelon)

Es werden ohne Zweifel rühmliche Anstrengungen gemacht, die Menschheit vorwärts zu bringen: Mehr als zu jeder anderen Zeit werden gute Gefühle und Neigungen ermutigt, angereizt, geehrt, und doch bleibt der nagende Wurm des Egoismus stets die offene Wunde der Gesellschaft. Er ist ein tatsächliches Übel, das auf jedermann lastet und dessen Opfer mehr oder weniger ein jeder wird. Man muss ihn daher bekämpfen wie eine ansteckende Krankheit. Dann muss man nach Art der Ärzte vorgehen: Zur Quelle muss man sich wenden. Man suche also in allen Teilen des sozialen Organismus, in der Familie bis zu den Völkern und von der Hütte bis zum Palast nach allen Ursachen, offenen und geheimen Einflüssen, welche den Egoismus erregen, unterhalten und entwickeln. Kennt man einmal die Ursachen, so wird sich das Heilmittel von selbst finden. Es wird sich dann nur noch darum handeln, jene zu bekämpfen, wenn nicht alle auf einmal, doch wenigstens teilweise und nach und nach wird das Gift ausgeschieden werden können. Die Heilung mag lange dauern, denn der Ursachen sind viele, aber sie ist nicht unmöglich. Zum Ziel gelangen wird man übrigens nur, wenn man das Übel an der Wurzel angreift, d.h. mit der Erziehung, – nicht mit der, welche unterrichtete Menschen, sondern welche gute Menschen zu schaffen strebt.

Die Erziehung, richtig aufgefasst, ist der Schlüssel zum moralischen Fortschritt. Kennt man einmal die Kunst, die Charaktere zu handhaben, wie man die Kunst der Ausbildung der Intelligenz kennt, so wird man jene wieder aufrichten und gerade machen können, wie man junge Pflanzen aufrichtet. Diese Kunst erheischt jedoch großen Takt, viel Erfahrung und tiefe Beobachtung. Es ist ein schwerer Irrtum, wenn man meint, es genüge wissenschaftliche Bildung, um jene mit Erfolg auszuüben. Ein jeder, der die Entwicklung des Kindes des Reichen wie des Armen von seiner Geburt an verfolgt und alle schädlichen Einflüsse beobachtet, die durch die Schwäche, die Sorglosigkeit und Unwissenheit derjenigen auf dasselbe wirken, welche es leiten, wird sich, wenn er sieht, wie oft die angewandten Mittel, es zu moralisieren fehlschlagen, nicht mehr wundern, in der Welt so viel Verkehrtheiten zu erblicken. Man tue für das Moralische so viel, wie man für die Intelligenz tut, und man wird sehen, dass, wenn es auch widersetzliche Naturen gibt, es doch mehr als man denkt solche gibt, die nur eine gute Pflege verlangen, um gute Früchte zu tragen. (872.)

Der Mensch will glücklich sein, dieses Gefühl liegt in der Natur. Darum arbeitet er unaufhörlich, seine Lage auf der Erde zu verbessern. Er forscht nach den Ursachen seiner Übel, um Abhilfe zu schaffen. Wenn er einmal gründlich erkannt haben wird, dass der Egoismus einer jener Ursachen ist, nämlich die, welche Hochmut, Ehrgeiz, Begehrlichkeit, Neid, Hass, Eifersucht gebiert, von denen er jeden Augenblick verletzt wird, welche Verwirrung in alle gesellschaftlichen Verhältnisse bringt, Zwietracht sät, das Vertrauen untergräbt, die uns nötigt, uns beständig im Verteidigungszustand gegenüber unseren Nachbarn zu halten, die letztendlich den Freund uns zum Feind macht, dann wird er auch erkennen, dass dieses Laster mit seinem eigenen Glück sich nicht verträgt, ja, fügen wir hinzu, nicht einmal mit seiner Sicherheit. Je mehr er darunter leidet, desto mehr wird er die Notwendigkeit einsehen, es zu bekämpfen, so gut als er die Pest, die schädlichen Tiere und alle anderen Landplagen bekämpft. Durch sein eigenes Interesse wird er dazu aufgefordert. (784.)

Der Egoismus ist die Quelle allen Übels und aller Fehler und Laster, so wie die Menschenliebe die Quelle aller Tugenden. Die eine ausrotten, die andere entwickeln, das muss das Ziel aller Anstrengungen des Menschen sein, wenn er sich sein Glück sowohl hier auf Erden, als in der Zukunft sichern will.

Merkmale des rechtschaffenen Menschen.

918. An welchen Zeichen kann man bei einem Menschen jenen wirklichen Fortschritt erkennen, der ihn in der Rangordnung der Geister erhöhen muss?

„Der Geist beweist seine Erhöhung, wenn all sein Tun im leiblichen Leben eine Erfüllung des Gesetzes Gottes ist und wenn er das geistige Leben schon jetzt im Voraus erkennt.“

Ein wahrhaft, rechtschaffener Mensch ist der, welcher das Gesetz der Gerechtigkeit, der Liebe und Nächstenliebe in größter Reinheit erfüllt. Fragt er sein Gewissen über das, was er getan hat, so wird er sich prüfen, ob er nicht jenes Gesetz übertreten, ob er nicht Böses getan, ob er alles Gute getan, das er gekonnt, ob niemand sich über ihn zu beklagen hatte, letztendlich, ob er den andern so getan hat, wie er wollte, dass man ihm tue.

Der von Liebe und Nächstenliebe durchdrungene Mensch tut das Gute um des Guten willen, ohne auf Wiedervergeltung zu hoffen und opfert sein eigenes Interesse der Gerechtigkeit.

Er ist gut, menschlich und wohlwollend gegen jedermann, weil er in allen Menschen seine Brüder sieht ohne Rücksicht auf Stamm oder Glauben.

Wenn ihm Gott Macht und Reichtum gab, so betrachtet er diese als ein anvertrautes Gut, das er zum Guten verwenden soll. Er ist nicht eitel darauf, denn er weiß, dass Gott, der es ihm gegeben hat, es ihm wieder nehmen kann.

Hat die gesellschaftliche Ordnung Menschen in Abhängigkeit von ihm gesetzt, so behandelt er sie mit Güte und Wohlwollen, weil sie seinesgleichen sind vor Gott. Er macht von seinem Ansehen Gebrauch, um sie moralisch zu fördern, nicht um sie mit seinem Hochmut niederzutreten.

Er ist nachsichtig gegen die Schwächen anderer, weil er weiss, dass er selbst der Nachsicht bedarf und weil er sich Christi Wort erinnert: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“

Er ist nicht rachsüchtig; nach Jesu Beispiel vergibt er Beleidigungen und erinnert sich nur des Guten, denn er weiß, dass „ihm vergeben wird, wie er selbst vergibt.

Er achtet endlich bei seinesgleichen alle Rechte, welche ihnen die Gesetze der Natur verleihen, wie er wünscht, dass man sie auch ihm gegenüber achte.

Selbsterkenntnis.

919. Was ist das wirksamste praktische Mittel, um sich in diesem Leben zu vervollkommnen und den Lockun gen des Bösen zu widerstehen?

„Ein Weiser des Altertums hat euch gesagt: „Erkenne dich selbst.“

919a. Wir erkennen die ganze Weisheit dieses Grundsatzes, aber die Schwierigkeit liegt gerade darin, sich selbst zu erkennen. Wie gelangt man hierzu?

„Tut, was ich selbst tat, als ich auf Erden lebte: Am Schluss des Tages befragte ich mein Gewissen, was ich getan, ließ es an mir vorüberziehen und fragte mich, ob ich mich nicht gegen irgendeine Pflicht verfehlt habe, ob niemand sich über mich zu beklagen gehabt hat. So gelangte ich dazu, mich selbst zu kennen und zu wissen, was an mir gebessert werden muss. Wer jeden Abend alles, was er den Tag über getan, sich zurückrufen und sich fragen würde, was er Gutes oder Böses getan hat, und dabei Gott und seinen Schutzengel um Erleuchtung bäte, der würde sich eine große Kraft zu seiner Vervollkommnung erwerben, denn, glaubt es mir, Gott wird ihm beistehen. Stellt euch daher bestimmte Fragen über das, was ihr getan und zu welchem Zweck ihr bei der und der Gelegenheit so und so gehandelt habt, ob ihr etwas getan habt, das ihr, wenn ein anderer es täte, tadeln würdet, ob ihr etwas getan habt, das ihr nicht eingestehen dürftet. Fragt euch auch noch das: Wenn es Gott gefiele, euch in diesem Augenblick abzurufen, hätte ich dann bei meiner Rückkehr in die Welt der Geister, wo nichts verborgen bleibt, jemandes Anblick zu scheuen? Prüft, was ihr gegenüber Gott, dann gegenüber eueren Nächsten, endlich gegenüber euch selbst möget getan haben. Die Antworten werden ein Ruhepunkt für euer Gewissen sein oder eine Hinweisung auf ein Übel, das ihr zu heilen habt.

Die Selbsterkenntnis ist also der Schlüssel zur Selbsterhöhung und Selbstbesserung. Aber, werdet ihr fragen, wie sich selbst richten? Täuscht einen nicht die Eigenliebe, welche unsere Fehler verkleinert und sie vor uns entschuldigt? Der Geizige hält sich einfach nur für haushälterisch und vorsichtig, der Hochmütige meint nur, Würde zu besitzen. Das ist alles nur zu wahr, aber ihr habt ein Mittel zur Gegenprobe, das nicht trügt. Wenn ihr über den Wert einer eurer Handlungen unentschieden seid, so fragt euch, wie ihr sie beurteilen würdet, wenn ein anderer sie täte. Tadelt ihr sie an einem anderen, so kann sie als die eurige nicht besser sein, denn Gott hat nur ein Maß für die Gerechtigkeit. Sucht auch zu vernehmen, was andere davon denken, und vernachlässigt nicht die Meinung eurer Feinde, denn diese haben keinerlei Grund, die Wahrheit schön zu färben und oft stellt Gott sie an eure Seite euch zum Spiegel, um euch mit mehr Freimut zu warnen, als ein Freund es täte. Möge also der, dem es ernst ist mit dem Willen sich zu bessern, sein eigenes Selbst erforschen, um daraus die bösen Neigungen auszurotten, wie er das Unkraut aus seinem Garten ausrottet. Er ziehe die Bilanz seines moralischen Tagewerkes, wie der Kaufmann die seines Verlustes und Gewinnes und ich sage euch, die eine wird ihm mehr eintragen, als die andere. Kann er sich sagen, dass sein Tagewerk gut war, so kann er in Frieden schlafen und furchtlos sein Erwachen in einem andern Leben erwarten.

Stellt euch also deutliche und bestimmte Fragen und fürchtet euch nicht, sie zu vermehren: Man darf schon einige Minuten daran wenden, ein ewiges Glück sich zu erwerben. Arbeitet ihr nicht alle Tage, um euch so viel zu sammeln, dass ihr eure alten Tage in Ruhe hinbringen könnt? Ist jene Ruhe nicht das Ziel aller eurer Wünsche, das euch zeitweilige Mühe und Entbehrung ertragen lässt? Nun denn, was ist jene Ruhe von einigen Tagen, noch dazu getrübt von der Gebrechlichkeit des Leibes, gegenüber derjenigen, die den guten Menschen erwartet? Lohnt es sich etwa nicht dafür einige Anstrengungen zu machen? Ich weiß, dass viele sagen, die Gegenwart sei sicher und die Zukunft unsicher. Das ist nun aber gerade der Gedanke, den wir in euch auszurotten beauftragt sind; denn wir wollen euch jene Zukunft in einer Weise erkennen lassen, dass sie keinen Zweifel mehr in eurer Seele aufkommen lässt. Darum erregten wir zuerst eure Aufmerksamkeit durch Erscheinungen, die eure Sinne befremden mussten und nun geben wir euch Belehrungen, die jeder von euch zu verbreiten verpflichtet ist. Zu diesem Zweck diktierten wir das Buch der Geister.“

hl. Augustinus

Viele von uns begangene Fehler werden von uns nicht bemerkt. Wenn wir wirklich öfter unser Gewissen befragten, so würden wir sehen, wie oft wir fehlten, ohne nur daran zu denken, weil wir es versäumten, Natur und Beweggrund unseres Tuns zu erforschen. Die Frageform hat etwas viel Bestimmteres als ein allgemeiner Grundsatz, den man oft nicht auf sich anwendet. Sie verlangt bestimmte Antworten, mit Ja oder Nein, die kein entweder oder übrig lassen: Es sind ebenso viele von uns selbst hergenommene Beweise, und nach der Summe der Antworten kann man die Summe des Guten und Bösen schätzen, die in uns ist.