Das Buch der Geister

Allan Kardec

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Schlaf und Träume.

400. Bleibt der inkarnierte Geist gern in seiner leiblichen Hülle?

„Das ist, wie wenn du fragtest, ob der Gefangene sich hinter Schloß und Riegel gefalle? Der inkarnierte Geist trachtet stets nach Befreiung und je gröber die Hülle ist, desto sehnlicher wünscht er ihrer entledigt zu werden.“

401. Ruht sich die Seele während des Schlafes aus, wie der Leib?

„Nein, der Geist ist nie untätig. Während des Schlafes werden die Bande, die ihn an den Leib fesseln, lockerer und da der Leib seiner jetzt nicht bedarf, so durchzieht er den Weltraum und tritt in unmittelbarere Beziehung zu den anderen Geistern.“

402. Wie können wir uns über die Freiheit des Geistes während des Schlafes ein Urteil bilden?

„Durch die Träume. Sei gewiss, dass der Geist, wenn der Leib ruht, mehr Fähigkeiten besitzt, als während des Wachens. Er besitzt die Erinnerung an das Vergangene und zuweilen auch den Blick in die Zukunft. Ein größeres Können wird ihm zuteil und er vermag mit anderen Geistern, sei es auf dieser, sei es auf einer anderen Welt, in Verbindung zu treten. Oft sagst du: ich hatte einen wunderlichen Traum, einen schrecklichen Traum, der aber keinerlei Wahrscheinlichkeit hat. Du irrst dich: das ist oft eine Erinnerung an Orte und Dinge, die du gesehen hast oder sehen wirst in einer anderen Existenz oder zu einer andern Zeit. Da der Leib schlaff da liegt, so sucht der Geist seine Kette zu brechen, um in der Vergangenheit oder der Zukunft zu forschen.

Arme Menschen, wie wenig kennt ihr die gewöhnlichsten Erscheinungen des Lebens. Ihr glaubt, sehr gelehrt zu sein und die gemeinsten Dinge setzen euch in Verlegenheit. Auf jene Frage aller Kinder, was tun wir, wenn wir schlafen, was sind eigentlich die Träume? Da steht ihr verblüfft da.

Der Schlaf befreit die Seele teilweise vom Leib. Wenn man schläft so ist man vorübergehend in dem Zustand, in welchem man sich bleibend nach dem Tod befindet. Die Geister, die bei ihrem Tod bald vom Stoff befreit sind, haben (bei Lebzeiten) intelligente Träume gehabt; wenn sie schlafen, so suchen sie die Gesellschaft der anderen höheren Wesen wieder auf: sie reisen, unterhalten und lernen mit ihnen; ja sie arbeiten an Werken, die sie bei ihrem Tod fertig vorfinden. Dies soll euch noch einmal zeigen, dass ihr den Tod nicht zu fürchten habt, da ihr ja, nach den Worten eines Heiligen, jeden Tag sterbt.

So viel von den höheren Geistern. Was aber die große Menge der Menschen betrifft, die beim Tod lange Stunden in jener Verwirrung bleiben müssen, in jener Ungewissheit, von der sie euch sprechen, so gehen dieselben teils auf niedrigere Welten als die unsrige, wohin alte Neigungen sie rufen, teils suchen sie noch niedrigere Vergnügungen auf, als ihre hiesigen waren. Sie gehen noch niedrigere, unedlere, schädlichere Lehrmeinungen zu erfinden, als die, welche sie mitten unter euch bekennen. Und was auf Erden die Sympathie erzeugt, ist nichts anderes als die Tatsache, dass man sich beim Erwachen innerlich zu denen hingezogen fühlt, mit denen man 8 oder 9 Stunden des Glücks oder der Freude zugebracht hat. Was zugleich unüberwindliche Antipathien erklärt, ist, dass man im Grunde seines Herzens weiß, dass jene Menschen ein anderes moralisches Bewusstsein haben, als wir, indem man sie erkennt, ohne sie je mit Augen gesehen zu haben. Ebenso erklärt sich die Gleichgültigkeit daraus, dass einem nichts daran liegt, neue Freunde zu erwerben, wenn man weiß, dass man andere besitzt, denen wir lieb und teuer sind. Mit einem Wort, der Schlaf hat größeren Einfluss auf euer Leben als ihr es glaubt.

Durch die Wirkung des Schlafes stehen die inkarnierten Geister fortwährend in Beziehung zu der Welt der Geister und eben darum willigen die höheren Geister ohne zu großes Widerstreben ein, sich unter euch zu inkarnieren. Gott hat es gewollt, dass sie während ihrer Berührung mit dem Laster sich wieder in den Urquell des Guten eintauchen können, um nicht selbst sich zu verfehlen, – sie, welche kommen, um die anderen zu belehren. Der Schlaf ist die Türe, die Gott ihnen auftut zu ihren Freunden im Himmel. Er ist ihre Erholung von der Arbeit in Erwartung der großen Befreiung, jener endgültigen, die sie ihrer wahren Bestimmung wiedergeben soll.

Der Traum ist die Erinnerung an das, was euer Geist im Schlaf gesehen hat; aber bedenkt, dass ihr immer träumt, auch wenn ihr euch nicht immer dessen erinnert, was ihr gesehen, oder wenigstens nicht an alles, was ihr gesehen habt. Nicht eure Seele ist es in ihrer ganzen Entfaltung: Oft ist es nur die Erinnerung an die Verwirrung, welche euer Wegzug oder eure Wiederkehr begleitet, woran sich die Erinnerung an das, was ihr getan oder was euch im wahren Zustand beschäftigt, anreiht. Wie wolltet ihr auch sonst jene ungereimten Träume erklären, welche die gelehrtesten wie die einfachsten Menschen haben? Auch die bösen Geister bedienen sich der Träume, um schwache und kleinmütige Seelen zu quälen.

Übrigens werdet ihr bald eine andere Gattung von Träumen sich entwickeln sehen. Die ist so alt wie die, welche ihr schon kennt; aber euch ist sie unbekannt. Der Traum Johannes, der Traum Jakobs, der Traum der jüdischen Propheten und einiger indischer Wahrsager und Weisen. Dieser Traum ist die Erinnerung der ganz vom Leib gelösten Seele, die Erinnerung an jenes zweite Leben, von dem ich euch eben erst erzählt habe. Bestrebt euch zwischen diesen beiden Arten von Träumen wohl zu unterscheiden bei denjenigen, deren ihr euch noch erinnern werdet, sonst würdet ihr in Widersprüche und Irrtümer verfallen, die eurem Glauben verderblich wären.“

Die Träume sind das Erzeugnis der Befreiung der Seele, die durch Aufhebung des tätigen zusammenhängenden Lebens unabhängiger geworden ist. Daher stammt eine Art von unbestimmtem Hellsehen, die sich auf die entferntesten Orte oder auf solche ausdehnt, die man noch nie gesehen hat; ja zuweilen bis auf andere Welten. Daher auch die Erinnerung an Ereignisse, der jetzigen oder früheren Existenzen. Die Seltsamkeit der Bilder aus einer unbekannten Welt, die sich mit Dingen dieser wirklichen Welt vermengen, erzeugt jene sonderbaren und konfusen Verkettungen, welche weder Sinn noch Zusammenhang zu haben scheinen. Dies Unzusammenhängende der Träume erklärt sich ferner durch die Lücken, welche durch die unvollständige Erinnerung an die Erscheinungen in den Träumen hervorgebracht werden. Man denke an eine Erzählung, aus der man zufällig einzelne Sätze oder Teile von Sätzen herausgerissen hätte: Die hiernach aneinandergereihten Bruchstücke würden jedes vernünftigen Sinnes entbehren.

403. Warum erinnert man sich nicht immer an die Träume?

„Was du den Schlaf nennst, ist nur die Ruhe des Leibes, denn der Geist ist ständig in Bewegung. Jetzt erlangt er etwas von seiner Freiheit wieder und verkehrt mit seinen Lieben in dieser oder in der anderen Welt. Da der Leib aber ein schwerer und grober Stoff ist, so behält er nur mit Mühe die Eindrücke, die der Geist empfangen hat, weil sie diesem nicht durch die Organe des Leibes vermittelt wurden.“

404. Was ist von der, den Träumen beigelegten Bedeutung zu halten?

„Die Träume sind keineswegs in dem Sinne der Wahrsager und Traumdeuter als wahr anzunehmen, denn es ist einfältig zu meinen, dass etwas Bestimmtes zu träumen auch etwas Bestimmtes ankündige. Wahr sind die Träume nur in dem Sinne, dass sie dem Geist wirkliche Bilder darbieten, die aber oft keine Beziehung zu den Begebnissen des leiblichen Lebens haben. Oft sind sie auch, wie gesagt, eine Erinnerung und endlich können sie zuweilen auch Ahnungen des Künftigen sein, wenn Gott es gestattet, oder auch das Gesicht von dem, was in diesem Augenblick an einem anderen Ort, wohin sich die Seele versetzt, sich ereignet. Gibt es nicht zahlreiche Beispiele, wo Personen ihren Verwandten oder Freunden im Traum erscheinen und sie von dem, was ihnen zustößt, unterrichten? Was sind diese Erscheinungen anderes, als die Seele oder der Geist jener Personen, die mit dem eurigen in Verkehr treten? Wenn ihr die Gewissheit erlangt, dass das, was ihr gesehen habt, wirklich stattgefunden hat, ist dies dann nicht ein Beweis, dass die Einbildung damit nichts zu tun hatte, besonders wenn euch die Sache in keiner Weise während des Wachzustandes beschäftigte?“

405. Oft sieht man im Traum Dinge, die Vorahnungen zu sein scheinen, die sich dann aber doch nicht erfüllen; woher das?

„Für den Geist können sie sich erfüllen, wenn auch nicht für den Leib, d. h. der Geist sieht das, was er wünscht, weil er es finden wird. Man darf nicht vergessen, dass die Seele während des Schlafes stets mehr oder weniger unter dem Einfluss des Stoffes steht und dass sie sich also nie gänzlich von den irdischen Vorstellungen befreit. Daraus folgt, dass das, womit man sich am Tag vorher besonders beschäftigte, dem was man schaut, den Schein dessen verleihen kann, was man herbeiwünscht oder auch was man fürchtet. Das ist dann in Wahrheit eine Wirkung der Einbildungskraft. Ist man einmal gelegentlich mit etwas beschäftigt, so verknüpft man damit alles, was man sieht.“

406. Wenn wir im Traum lebende Personen, die wir genau kennen, Dinge tun sehen, an die sie in keiner Weise denken, ist dies nicht die reine Wirkung der Einbildungskraft?

„An die sie in keiner Weise denken“, woher weißt du das? Ihr Geist kann zum deinigen auf Besuch kommen, wie der deinige zum ihrigen und du weißt nicht immer, woran er denkt. Ferner übertragt ihr auch oft das, was in anderen Existenzen geschehen ist oder geschieht, je nach euren Wünschen auf Personen, die ihr kennt.“

407. Ist der vollständige Schlaf zur Befreiung des Geistes notwendig?

„Nein, der Geist empfängt seine Freiheit wieder, sobald die Sinne ermatten. Um sich frei zu machen, benutzt er jeden Augenblick, den ihm der Leib übrig lässt. Sowie die Lebenskräfte sinken, macht sich der Geist los und je schwächer der Leib ist, desto stärker erhebt sich der Geist.“

So bietet der Halbschlaf oder eine einfache Erschlaffung des Sinnenlebens oft die gleichen Bilder dar, wie der Traum.

408. Zuweilen glauben wir in uns selbst deutlich gesprochene Worte zu hören, die keine Beziehung zu dem haben, was uns gerade beschäftigt: Woher kommt das?

„Ja, und selbst ganze Sätze, besonders wenn die Sinne anfangen zu erschlaffen. Zuweilen ist das der schwache Widerhall eines Geistes, der mit dir verkehren will.“

409. Oft sehen wir in einem Zustand, der noch kein Halbschlaf ist, mit geschlossenen Augen deutliche Bilder und Figuren, deren kleinste Einzelheiten uns nicht entgehen: Ist dies die Wirkung einer Vision oder der Einbildungskraft?

„Wenn der Leib erschlafft ist, so sucht der Geist seine Ketten zu brechen: Er zieht aus und schaut. Wäre der Schlaf vollständig, so wäre dies ein Traum.“

410. Man hat zuweilen im Schlaf oder Halbschlaf Gedanken, die sehr gut scheinen, die aber trotz aller Mühe, die man sich gibt, sie zurückzurufen, uns aus der Erinnerung verschwinden: Woher kommen jene Gedanken?

„Sie sind das Ergebnis der Freiheit des Geistes, der sich entfesselt und während dieser Augenblicke über größere Kräfte verfügt. Oft auch sind es Ratschläge, welche andere Geister uns geben.“

410a. Wozu nützen diese Gedanken und diese Ratschläge, da man sich doch ihrer nicht erinnert und sie nicht befolgen kann?

„Diese Gedanken gehören zuweilen mehr der Geisterwelt als der eurigen an; meistenteils aber erinnert sich der Geist, wenn der Leib vergisst und der Gedanke kehrt dann im rechten Augenblick wie eine Eingebung wieder.“

411. Kennt der inkarnierte Geist in den Momenten, wo er vom Stoff frei ist und als Geist sich fühlt, den Zeitpunkt seines Todes?

„Oft ahnt er ihn, zuweilen ist er sich desselben ganz deutlich bewusst und dies gibt ihm dann im wachen Zustand ein vages Gefühl davon. Daher kommt es, dass gewisse Personen ihren Tod zuweilen mit großer Genauigkeit voraus wissen.“

412. Kann die Tätigkeit des Geistes während der Ruhe oder des Schlafes des Leibes für diesen letzteren Ermüdung herbeiführen?

„Ja, denn der Geist ist gewissermaßen am Leib befestigt, wie der angebundene Luftballon an seinem Pfahl, und so wie die Bewegungen des Luftballons den Pfahl erschüttern können, so wirkt der Geist auf den Leib zurück und kann ihn schließlich ermüden.“