Das Buch der Geister

Allan Kardec

Zurück zum Menü
402. Wie können wir uns über die Freiheit des Geistes während des Schlafes ein Urteil bilden?
,,Durch die Träume. Sei gewiss, dass der Geist, wenn der Leib ruht, mehr Fähigkeiten besitzt, als während des Wachens. Er besitzt die Erinnerung an das Vergangene und zuweilen auch den Blick in die Zukunft. Ein größeres Können wird ihm zuteil und er vermag mit anderen Geistern, sei es auf dieser, sei es auf einer anderen Welt, in Verbindung zu treten. Oft sagst du: ich hatte einen wunderlichen Traum, einen schrecklichen Traum, der aber keinerlei Wahrscheinlichkeit hat. Du irrst dich: das ist oft eine Erinnerung an Orte und Dinge, die du gesehen hast oder sehen wirst in einer anderen Existenz oder zu einer andern Zeit. Da der Leib schlaff da liegt, so sucht der Geist seine Kette zu brechen, um in der Vergangenheit oder der Zukunft zu forschen.


Arme Menschen, wie wenig kennt ihr die gewöhnlichsten Erscheinungen des Lebens. Ihr glaubt, sehr gelehrt zu sein und die gemeinsten Dinge setzen euch in Verlegenheit. Auf jene Frage aller Kinder, was tun wir, wenn wir schlafen, was sind eigentlich die Träume? Da steht ihr verblüfft da.


Der Schlaf befreit die Seele teilweise vom Leib. Wenn man schläft so ist man vorübergehend in dem Zustand, in welchem man sich bleibend nach dem Tod befindet. Die Geister, die bei ihrem Tod bald vom Stoff befreit sind, haben (bei Lebzeiten) intelligente Träume gehabt; wenn sie schlafen, so suchen sie die Gesellschaft der anderen höheren Wesen wieder auf: sie reisen, unterhalten und lernen mit ihnen; ja sie arbeiten an Werken, die sie bei ihrem Tod fertig vorfinden. Dies soll euch noch einmal zeigen, dass ihr den Tod nicht zu fürchten habt, da ihr ja, nach den Worten eines Heiligen, jeden Tag sterbt.


So viel von den höheren Geistern. Was aber die große Menge der Menschen betrifft, die beim Tod lange Stunden in jener Verwirrung bleiben müssen, in jener Ungewissheit, von der sie euch sprechen, so gehen dieselben teils auf niedrigere Welten als die unsrige, wohin alte Neigungen sie rufen, teils suchen sie noch niedrigere Vergnügungen auf, als ihre hiesigen waren. Sie gehen noch niedrigere, unedlere, schädlichere Lehrmeinungen zu erfinden, als die, welche sie mitten unter euch bekennen. Und was auf Erden die Sympathie erzeugt, ist nichts anderes als die Tatsache, dass man sich beim Erwachen innerlich zu denen hingezogen fühlt, mit denen man 8 oder 9 Stunden des Glücks oder der Freude zugebracht hat. Was zugleich unüberwindliche Antipathien erklärt, ist, dass man im Grunde seines Herzens weiß, dass jene Menschen ein anderes moralisches Bewusstsein haben, als wir, indem man sie erkennt, ohne sie je mit Augen gesehen zu haben. Ebenso erklärt sich die Gleichgültigkeit daraus, dass einem nichts daran liegt, neue Freunde zu erwerben, wenn man weiß, dass man andere besitzt, denen wir lieb und teuer sind. Mit einem Wort, der Schlaf hat größeren Einfluss auf euer Leben als ihr es glaubt.


Durch die Wirkung des Schlafes stehen die inkarnierten Geister fortwährend in Beziehung zu der Welt der Geister und eben darum willigen die höheren Geister ohne zu großes Widerstreben ein, sich unter euch zu inkarnieren. Gott hat es gewollt, dass sie während ihrer Berührung mit dem Laster sich wieder in den Urquell des Guten eintauchen können, um nicht selbst sich zu verfehlen, – sie, welche kommen, um die anderen zu belehren. Der Schlaf ist die Türe, die Gott ihnen auftut zu ihren Freunden im Himmel. Er ist ihre Erholung von der Arbeit in Erwartung der großen Befreiung, jener endgültigen, die sie ihrer wahren Bestimmung wiedergeben soll.

Der Traum ist die Erinnerung an das, was euer Geist im Schlaf gesehen hat; aber bedenkt, dass ihr immer träumt, auch wenn ihr euch nicht immer dessen erinnert, was ihr gesehen, oder wenigstens nicht an alles, was ihr gesehen habt. Nicht eure Seele ist es in ihrer ganzen Entfaltung: Oft ist es nur die Erinnerung an die Verwirrung, welche euer Wegzug oder eure Wiederkehr begleitet, woran sich die Erinnerung an das, was ihr getan oder was euch im wahren Zustand beschäftigt, anreiht. Wie wolltet ihr auch sonst jene ungereimten Träume erklären, welche die gelehrtesten wie die einfachsten Menschen haben? Auch die bösen Geister bedienen sich der Träume, um schwache und kleinmütige Seelen zu quälen.


Übrigens werdet ihr bald eine andere Gattung von Träumen sich entwickeln sehen. Die ist so alt wie die, welche ihr schon kennt; aber euch ist sie unbekannt. Der Traum Johannes, der Traum Jakobs, der Traum der jüdischen Propheten und einiger indischer Wahrsager und Weisen. Dieser Traum ist die Erinnerung der ganz vom Leib gelösten Seele, die Erinnerung an jenes zweite Leben, von dem ich euch eben erst erzählt habe. Bestrebt euch zwischen diesen beiden Arten von Träumen wohl zu unterscheiden bei denjenigen, deren ihr euch noch erinnern werdet, sonst würdet ihr in Widersprüche und Irrtümer verfallen, die eurem Glauben verderblich wären.“


Die Träume sind das Erzeugnis der Befreiung der Seele, die durch Aufhebung des tätigen zusammenhängenden Lebens unabhängiger geworden ist. Daher stammt eine Art von unbestimmtem Hellsehen, die sich auf die entferntesten Orte oder auf solche ausdehnt, die man noch nie gesehen hat; ja zuweilen bis auf andere Welten. Daher auch die Erinnerung an Ereignisse, der jetzigen oder früheren Existenzen. Die Seltsamkeit der Bilder aus einer unbekannten Welt, die sich mit Dingen dieser wirklichen Welt vermengen, erzeugt jene sonderbaren und konfusen Verkettungen, welche weder Sinn noch Zusammenhang zu haben scheinen. Dies Unzusammenhängende der Träume erklärt sich ferner durch die Lücken, welche durch die unvollständige Erinnerung an die Erscheinungen in den Träumen hervorgebracht werden. Man denke an eine Erzählung, aus der man zufällig einzelne Sätze oder Teile von Sätzen herausgerissen hätte: Die hiernach aneinandergereihten Bruchstücke würden jedes vernünftigen Sinnes entbehren.