Das Buch der Geister

Allan Kardec

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Zivilisation

790. Ist die Zivilisation ein Fortschritt oder, wie einige Philosophen meinen, ein Niedergang der Menschheit?
„Ein unvollständiger Fortschritt: Der Mensch springt nicht auf einmal von der Kindheit in das reife Alter hinein.“


790a. Ist es vernunftgemäß, die Zivilisation zu verdammen?
„Verdammt vielmehr die, welche sie missbrauchen, nicht aber das Werk Gottes.“


791. Wird sich die Zivilisation nicht soweit reinigen, dass sie die von ihr erzeugten Übel wieder wird verschwinden lassen?
„Ja, wenn der moralische Sinn ebenso weit entwickelt sein wird, wie die Intelligenz. Die Frucht kann nicht vor der Blüte kommen.“


792. Warum verwirklicht die Zivilisation nicht unmittelbar alles Gute, das sie hervorbringen könnte?
„Weil die Menschen weder schon reif noch schon empfänglich sind, es aufzunehmen.“



792a. Könnte der Grund nicht auch darin liegen, dass sie durch Hervorbringung neuer Bedürfnisse auch die neuen Leidenschaften überreizen würde?
„Ja, und weil nicht alle geistigen Fähigkeiten gleichzeitig fortschreiten: Alles braucht seine Zeit. Von einer unvollständigen Zivilisation könnt ihr keine vollkommenen Früchte erwarten.“ (751. bis 780.)


793. An welchen Anzeichen kann man eine vollständige Zivilisation erkennen?
„Ihr erkennt sie an der moralischen Entwicklung. Ihr haltet euch für sehr fortgeschritten, weil ihr große Entdeckungen und wunderbare Erfindungen gemacht habt, weil ihr bessere Wohnungen und eine bessere Bekleidung habt, als die Wilden. In Wahrheit werdet ihr euch aber erst dann zivilisiert nennen dürfen, wenn ihr aus eurer Gesellschaft die sie entehrenden Laster verbannt und untereinander wie Brüder leben werdet, indem ihr christliche Nächstenliebe übt. Bis dahin seid ihr nur aufgeklärte Völker, da ihr nur die erste Strecke der Zivilisation durchschritten habt.“


Die Zivilisation hat ihre Stufen wie alles. Eine unvollständige Zivilisation ist ein Übergangspunkt, der besondere Übel erzeugt, die der Naturzustand nicht kennt. Nichtsdestoweniger aber bringt sie einen natürlichen und notwendigen Fortschritt hervor, der auch das Heilmittel für das von ihr erzeugte Übel in sich schließt. Je mehr die Zivilisation sich vervollkommnet, desto mehr vermindert sie einige der von ihr erzeugten Übel und diese werden mit dem moralischen Fortschritt endlich ganz verschwinden.


Von zwei an der Spitze der sozialen Stufenleiter angelangten Völkern darf nur das sich im wahren Sinne des Wortes das zivilisiertere nennen, bei dem sich wenige Egoismus Begehrlichkeit und Hochmut vorfindet, wo die Gewohnheiten mehr geistiger und moralischer Art sind, wo die Intelligenz sich mit größerer Freiheit entwickeln kann, wo sich am meisten gegenseitige Güte, Treue und Glauben, Wohlwollen und Edelmut findet, wo die Standesvorurteile am wenigsten tief wurzeln – denn diese vertragen sich nicht mit wahrer Nächstenliebe, wo die Gerechtigkeit unparteiischer verwaltet wird, wo der Schwache stets Schutz gegen den Starken findet, wo des Menschen Leben, Glauben und Meinungen am meisten geachtet werden, wo es am wenigsten Unglückliche gibt und endlich wo jeder Mensch von gutem Willen stets sicher ist, nicht am Notwendigen Mangel leiden zu müssen.