Das Buch der Geister

Allan Kardec

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266. Scheint es nicht natürlich, die am wenigsten schmerzlichen Prüfungen zu wählen?
„Für euch, ja; für den Geist aber nicht. Ist er vom Stoff befreit, so schwindet die Illusion und er denkt anders.


Auf Erden steht der Mensch unter dem Einfluss fleischlicher Gedanken und erblickt in jenen Prüfungen nur die schmerzliche Seite. Darum scheint es ihm natürlich, solche zu wählen, die von seinem Gesichtspunkt aus sich mit sinnlichen Genüssen vereinen lassen; im Geisterleben aber vergleicht er jene flüchtigen und groben Genüsse mit der unveränderlichen Glückseligkeit, die er ahnt. Was liegt ihm dann noch an einigen vorübergehenden Leiden? Der Geist kann daher die allerschwerste Prüfung und folglich die leidensvollste Existenz sich wählen in der Hoffnung, schneller zu einem besseren Zustand zu gelangen, wie der Kranke oft die bitterste Arznei wählt, um schneller zu genesen. Wer seinen Namen durch die Entdeckung eines neuen Landes unsterblich machen will, wählt nicht einen blumigen Weg: Er kennt die Gefahren, denen er entgegengeht, aber er kennt auch den Ruhm, der seiner wartet, wenn es ihm gelingt.


Die Lehre von der freien Wahl unserer Existenzen und unserer Prüfung erscheint nicht mehr außerordentlich, wenn man erwägt, dass die Geister, wenn einmal vom Stoff befreit, die Dinge anders ansehen, als wir. Sie erkennen den Zweck, der für sie einen viel höheren Ernst hat, als die flüchtigen weltlichen Vergnügungen. Nach jeder Existenz sehen sie den Schritt, den sie vorwärts getan haben und erkennen, was ihnen noch an Reinheit fehlt, um jenen Zweck zu erreichen. Darum unterziehen sie sich freiwillig allen Ereignissen des leiblichen Lebens und verlangen selbst diejenigen, welche sie am schnellsten zum Ziel führen können. Darum wundert man sich mit Unrecht, den Geist nicht der angenehmsten Existenz den Vorzug geben zu sehen. Jenes Leben ohne Leid kann er in seinem noch unvollkommenen Zustand nicht genießen, aber er ahnt es und um zu demselben zu gelangen, strebt er nach Besserung.


Haben wir übrigens nicht täglich Beispiele solchen Wählens vor Augen? Der Mensch, der einen Teil seines Lebens ohne Ruh und ohne Rast sich abarbeitet, um zum Wohlstand zu gelangen, – was ist das anderes als eine Aufgabe, die er sich selbst auferlegt im Hinblick auf eine bessere Zukunft? Der Soldat, der sich zu einem gefährlichen Auftrag meldet, der Reisende, der sich nicht geringeren Gefahren im Interesse der Wissenschaft oder seiner eigenen Bereicherung aussetzt, was sind auch das wieder anderes, als freiwillig übernommene Prüfungen, die später Ehre und Nutzen einbringen sollen? Was unterzieht sich und setzt sich der Mensch nicht allem aus für sein Interesse oder seinen Ruhm? Ist nicht jedes Examen auch eine Prüfung, der man sich freiwillig unterwirft, in der Aussicht, in seiner erwählten Laufbahn vorwärts zu kommen? Zu einer hervorragenden gesellschaftlichen Stellung in den Wissenschaften, Künsten, der Industrie gelangt keiner, der nicht die Reihenfolge der untergeordneten Stellungen durchmacht, welche ebenso viele Prüfungen bedeuten. So ist das Menschenleben gleichsam die Kopie des Lebens der Geister: im Kleinen finden wir darin überall dieselben Wechselfälle. Wenn wir somit im Leben oft die härtesten Prüfungen wählen, um zu einem höheren Ziel zu gelangen, warum sollte der Geist, der weiter blickt als der Leib und für den das Leibesleben nur ein flüchtiger Augenblick ist, nicht eine beschwerliche und mühevolle Existenz wählen, wenn diese zu einer ewigen Seligkeit führen muss? Wer da sagt, dass, wenn der Mensch die Wahl hätte unter seinen Existenzen, er ein Fürst oder Millionär zu werden verlangen würde, der gleicht den Kurzsichtigen, die nur sehen, was sie mit Händen greifen oder Kindern, die, wenn man sie fragt, was sie am liebsten werden wollen, antworten: Pastetenbäcker oder Zuckerbäcker. So sieht der im nebligen Talgrund dahinschreitende Wanderer weder die Länge noch die äußersten Punkte seines Weges, gelangt er aber auf die Höhe des Berges, so überschaut er den durchlaufenen und den ihm noch bevorstehenden Weg. Er sieht das Ziel und die Hindernisse, die noch zu überwinden sind, und kann jetzt mit mehr Sicherheit überlegen, was er zu tun hat. Der inkarnierte Geist gleicht dem Wanderer am Fuß des Berges; ist er aber entledigt von den irdischen Banden, so überblickt er alles, wie jener, der auf dem Gipfel steht. Des Wanderers Zweck ist die Ruhe nach der Ermüdung, des Geistes Zweck die höchste Glückseligkeit nach den Trübsalen und den Prüfungen.


Alle Geister sagen aus, dass sie im herumwandernden Zustand nur suchen, forschen, lernen und beobachten, um ihre Wahl zu treffen. Besitzen wir nicht ein Abbild davon in unserem leiblichen Leben? Suchen wir nicht oft jahrelang die Laufbahn, für die wir uns dann endlich frei entscheiden, weil wir sie für die geeignetste halten, um zu unserem Ziel zu gelangen? Geht es auf der einen nicht, so wählen wir eine andere. Jeder Weg, den wir einschlagen, ist eine Gestaltung, ein Abschnitt unseres Lebens. Denken wir nicht jeden Tag an das, was wir morgen tun werden? Was sind nun die verschiedenen leiblichen Existenzen für den Geist anderes, als die Gestaltungen, Abschnitte, Tage seines spirituellen Lebens, das, wie wir wissen, sein eigentliches und regelmäßiges Leben ist, während sein leibliches nur ein vorübergehendes ist?