Das Buch der Geister

Allan Kardec

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KAPITEL V
BETRACHTUNGEN ÜBER DIE MEHRHEIT DER EXISTENZEN

222. Der Glaubenssatz von der Reinkarnation, sagen einige Leute, ist nicht neu, er ist von Pythagoras her aufgefrischt. Wir haben auch nie gesagt, dass die spiritistische Lehre eine moderne Erfindung sei. Da der Spiritismus ein Naturgesetz ist, so musste er schon am Anfang der Zeiten existieren, und wir bemühten uns stets seine Spuren schon im höchsten Altertum nachzuweisen. Bekanntlich ist Pythagoras nicht der Erfinder des Systems der Seelenwanderung: er schöpfte von den indischen Philosophen und von den Ägyptern, wo dasselbe seit unvordenklichen Zeiten existierte. Die Idee der Seelenwanderung war somit ein Volksglaube, der von den hervorragendsten Männern geteilt wurde. Woher kam ihnen dieser Glaube? Durch Offenbarung oder durch unmittelbare Anschauung? Wir wissen es nicht, aber wie dem auch sei, eine Idee wandelt nicht durch alle Zeitalter und wird nicht von den auserlesensten Geistern angenommen, wenn sie nicht eine ernste Seite hat. Das Alter dieser Lehre wäre somit eher ein Beweis für, als ein Einwand gegen dieselbe. Jedoch besteht, wie man ebenfalls weiß, zwischen der Seelenwanderung der Alten und der modernen Lehre von der Reinkarnation der große Unterschied, dass die Geister das Wandern der Menschenseele in die Tiere auf das Allerbestimmteste verwerfen. Indem also die Geister den Glaubenssatz von der Mehrheit der leiblichen Existenzen lehren, erneuern sie eine Annahme, die in den frühesten Zeiten sich bildete und sich bis auf unsere Tage erhalten hat. Nur stellen sie diese Lehre unter einem vernunftsgemäßeren und den Naturgesetzen des Fortschrittes entsprechenderen sowie mit der Weisheit des Schöpfers mehr in Einklang stehenden Gesichtspunkt dar, indem sie sie aller Beiwerke des Aberglaubens entkleiden. Es ist auch ein bemerkenswerter Umstand, dass sie dieselbe in neuester Zeit nicht in diesem Buch allein lehrten. Schon vor dessen Veröffentlichung wurden in verschiedenen Gegenden zahlreiche Mitteilungen derselben Art empfangen und haben sich seither beträchtlich vermehrt. Vielleicht wäre es nun hier am Platz zu fragen, warum die Geister nicht alle über diesen Punkt übereinstimmen? Wir kommen später hierauf zurück.

Untersuchen wir die Sache unter einem anderen Gesichtspunkt und abgesehen von allen Einflüssen der Geister. Nehmen wir an, dass diese Theorie nicht die ihrige sei, ja dass überhaupt nie von Geistern die Rede gewesen ist. Stellen wir uns somit auf einen neutralen Boden, indem wir beiden Annahmen denselben Grad von Wahrscheinlichkeit zugestehen, der Einzahl und der Mehrzahl der leiblichen Existenzen, und sehen wir dann, nach welcher Seite Vernunft und eigenes Interesse uns führt. Gewisse Leute verwerfen die Idee der Reinkarnation nur darum, weil sie ihnen nicht behagt, indem sie sagen, sie hätten genug an einer einzigen Existenz und möchten nicht noch eine neue anfangen. Wir kennen Menschen, die der bloße Gedanke, wieder auf der Erde zu erscheinen, in Wut versetzt. Wir fragen sie nur eines: Ob sie glauben, dass Gott ihre Meinung und ihren Geschmack befragte, um das Universum zu regieren. Von zwei Dingen also eines: Die Reinkarnation existiert oder existiert nicht. Existiert sie, so mag sie ihnen lange widerstreben, sie werden sie sich doch gefallen lassen müssen; Gott wird sie darum nicht um Erlaubnis bitten. Es kommt uns vor, als hörten wir einen Kranken sagen: Ich habe heute genug gelitten, morgen will ich nicht mehr leiden. Wie groß auch seine üble Laune sei, er wird deswegen morgen und die folgenden Tage nicht minder leiden müssen, bis er genesen ist. Sollen jene also leiblich wiederleben, so werden sie es, sie werden sich neu inkarnieren. Sie mögen lange sich auflehnen, wie ein Kind das nicht zur Schule gehen will, oder wie ein Verurteilter in seinem Gefängnis: sie müssen eben hier durch. Solche Einwände sind eigentlich zu kindisch, um sich lange bei ihnen aufzuhalten. Zu ihrer Beruhigung indessen sagen wir jenen Gegnern: die Reinkarnationslehre ist nicht so schrecklich, wie sie meinen und hätten sie sie gründlich studiert, so wären sie vor ihr nicht so entsetzt: sie wüßten dann, dass der Zustand dieser neuen Existenz von ihnen abhängt: sie wird eine glückliche oder eine unglückliche sein, je nach dem, was sie hier auf Erden tun und sie können sich schon in diesem Leben so hoch erheben, dass sie keinen Rückfall in den Schlamm mehr zu fürchten haben.

Wir setzen voraus, dass wir zu Leuten sprechen, die an irgendeine Zukunft nach dem Tod glauben und nicht zu solchen, die sich das Nichts zur Aussicht wählen oder die ihre Seele ohne Individualität in ein allgemeines Ganzes wie die Regentropfen in das Weltmeer stürzen wollen, was ungefähr aufs Gleiche hinauskommt. Glaubt ihr also an irgendein künftiges Dasein, so werdet ihr gewiss nicht zugeben, dass es für alle das gleiche sei: denn wo wäre sonst der Nutzen des Guten? Warum dann sich Gewalt antun? Warum nicht alle Leidenschaften, alle Wünsche befriedigen, wäre es auch auf Kosten anderer, da nachher doch alles vorbei ist? Aber ihr glaubt also, jene Zukunft werde mehr oder weniger glücklich oder unglücklich sein, je nach dem, was ihr im Leben tatet; ihr wünscht dann dort so glücklich als möglich zu werden für alle Ewigkeit? Solltet ihr etwa den Anspruch stellen, die vollkommensten Menschen auf Erden zu sein, die je existierten und darum das vollste Recht zu haben auf die höchste Seligkeit der Auserwählten? Nein. Ihr gebt damit zu, dass es bessere Menschen gibt als ihr, und die Anspruch auf einen besseren Platz haben als ihr, ohne dass ihr deswegen zu den Verdammten gehört. Nun denn! Versetzt euch einen Augenblick in Gedanken in diese Mittelstellung, die ihr euch selbst angewiesen habt, und nun denkt, es komme einer und sage zu euch: ihr leidet, ihr seit nicht so glücklich, als ihr sein könntet, während ihr vor euch Wesen habt, die ein ungetrübtes Glück genießen, wollt ihr nicht mit ihnen tauschen? – Gewiss, werdet ihr antworten, was müssen wir tun? – Weniger als nichts: wieder anfangen, was ihr schlecht gemacht habt und versuchen, es besser zu machen. – Würdet ihr euch besinnen den Vorschlag anzunehmen, wäre es auch um den Preis mehrerer prüfungsvoller Existenzen? Machen wir eine mehr prosaische Vergleichung. Nehmen wir einen Menschen, der, ohne gerade im äußersten Elend zu sein, doch bei allzu geringen Einnahmen Mangel leidet, und es käme einer und sagte zu ihm: Ich weiß einen ungeheueren Schatz, der kann dein werden, aber dafür musst du eine Minute lang angestrengt arbeiten. Wäre es auch der Trägste von der Welt, ohne sich zu besinnen würde er antworten: „Ich will arbeiten eine, zwei Minuten, eine Stunde, ja wenn es sein muss, einen ganzen Tag; was heißt das, wenn ich dafür dann mein Leben in Überfluss beschließen kann? Was ist nun aber die Dauer unseres Leibeslebens im Vergleich mit der Ewigkeit? Weniger als eine Minute, als eine Sekunde.

Wir hörten den Gedanken aussprechen, der allgütige Gott könne dem Menschen unmöglich die Wiederholung einer Reihe von Plagen und Trübsalen auferlegen. Sollte man aber eine größere Güte darin entdecken, den Menschen wegen einiger Augenblicke des Irrtums zu ewigen Qualen zu verdammen, statt ihm die Mittel zu geben, seine Fehler wieder gut zu machen? „Zwei Fabrikanten hatten jeder einen Arbeiter, der sich darum bewerben durfte, Geschäftsteilhaber seines Meisters zu werden. Nun geschah es, dass einmal die beiden Arbeiter ihre Zeit sehr schlecht anwendeten und entlassen zu werden verdienten. Der eine Fabrikant jagte seinen Arbeiter fort trotz dessen Bitten und Flehen und dieser starb schließlich im Elend, da er keine Arbeit finden konnte. Der andere sagte zu seinem Gesellen: du hast einen Tag verloren, du schuldest mir also einen anderen dafür; du hast deine Arbeit schlecht gemacht, du musst mir sie besser machen. Du darfst sie wieder von vorn anfangen; tue wieder recht, so will ich dich behalten und du darfst immer noch auf die höhere Stellung hoffen, die ich dir versprochen habe.“ Braucht man noch zu fragen, welcher der beiden Fabrikanten der menschlichere war? Sollte Gott, der die Gnade selbst ist, unerbittlicher sein, als ein Mensch? Der Gedanke, dass unser Los für ewig entschieden sein soll durch einige Jahre der Prüfung, auch dann, wenn es nicht immer von uns abhing auf Erden die Vollendung zu erreichen, hat etwas Herzzerreißendes, während die entgegengesetzte Vorstellung ganz besonders trostreich ist: Sie lässt uns die Hoffnung. So sagen wir denn, ohne uns weder für noch gegen die Mehrzahl der Existenzen auszusprechen, ohne der einen Vermutung vor der anderen den Vorzug zu geben: Wenn wir die Wahl hätten, so zöge kein Mensch ein Urteil ohne Appellation vor. Ein Philosoph sagte, wenn es keinen Gott gäbe, so müsste man ihn erfinden, zum Nutzen des Menschengeschlechts. Man könnte dasselbe von der Mehrzahl der Existenzen sagen. Aber, wie gesagt, Gott bittet uns nicht um Erlaubnis und fragt nicht nach unserem Geschmack. So ist es oder so ist es nicht: Sehen wir, nach welcher Seite die Wahrscheinlichkeit sich neigt und betrachten wir die Sache noch von einem anderen Gesichtspunkt aus, immer abgesehen von der Belehrung der Geister und einzig und allein als philosophische Studie.

Gibt es keine Reinkarnation, so gibt es nur eine einzige leibliche Existenz. Das ist klar. Ist unser gegenwärtiges leibliches Dasein das einzige, so wird die Seele jedes Menschen bei seiner Geburt geschaffen, wenn man nicht eine frühere Existenz der Seele annehmen will, wobei man dann freilich wieder fragen müsste, was sie vor der Geburt gewesen und ob dieser Zustand nicht eine Existenz, eine Daseinsform irgendeiner Art voraussetzte? Ein Drittes gibt es hier nicht: entweder existierte die Seele oder sie existierte nicht, vor dem Leib. Wenn sie existierte, welches war denn ihr Zustand? Hatte sie ein Selbstbewusstsein, oder nicht? Hatte sie keines, so ist dies nicht viel anders, als wenn sie gar nicht existierte. Besaß sie ihre Individualität, schritt sie entweder vorwärts oder sie blieb stehen? Im einen wie im anderen Fall fragt es sich: Wie weit war sie, als sie in den Leib eintrat? Nimmt man mit dem Volkesglauben an, die Seele werde mit dem Leib geboren, oder, was auf dasselbe herauskommt, sie habe vor ihrer Einverleibung nur negative Eigenschaften, so fragt es sich:

1. Warum zeigt die Seele so verschiedene und von der Erziehung oft so unabhängige Eigenschaften?

2. Woher stammt die außergewöhnliche Befähigung gewisser ganz junger Kinder für gewisse Künste oder Wissenschaften, während andere ihr Leben lang auf unteren oder mittleren Stufen stehenbleiben?

3. Woher stammen bei den einen die angeborenen Ideen oder Anschauungen, die bei anderen nicht vorkommen?

4. Woher stammen bei gewissen Kindern jene frühreifen Triebe zum Laster oder zur Tugend, jener angeborene Sinn für Würde oder Gemeinheit, der in keinem Verhältnis steht zu der Umgebung, in der sie aufwachsen?

5. Warum sind gewisse Menschen, abgesehen von ihrer Erziehung weiter fortgeschritten, als andere?

6. Warum gibt es wilde und zivilisierte Menschen? Nähmet ihr ein Hottentottenkind an eure Brust und erzöget ihr es auf unsern berühmtesten Gymnasien, würdet ihr jemals aus ihm einen Laplace oder Newton machen?

Wir fragen, welche Philosophie oder Theosophie vermag diese Rätsel zu lösen? Die Seelen sind bei ihrer Geburt entweder gleich oder ungleich; daran ist kein Zweifel. Sind sie gleich, woher denn jene so verschiedenen Fähigkeiten? Sollte das vom Organismus abhängen? Dies wäre aber die ungeheuerlichste unmoralischste Lehre. Dann wäre der Mensch nichts, als eine Maschine, der Spielball des Stoffes. Er wäre für seine Handlungen nicht verantwortlich und könnte alles auf seine physischen Unvollkommenheiten schieben. Sind aber die Seelen ungleich, hat sie Gott so geschaffen. Warum dann aber dieser angeborene Vorrang der einen vor den anderen? Ist eine solche Parteilichkeit mit seiner Gerechtigkeit und mit seiner gleichen Liebe zu allen seinen Geschöpfen vereinbar?

Nehmen wir nun dem gegenüber eine Reihenfolge von früheren fortschreitenden Existenzen an und es ist alles erklärt. Die Menschen bringen bei ihrer Geburt die vage Anschauung dessen, was sie sich erworben haben, mit. Sie sind mehr oder weniger fortgeschritten, je nach der Zahl der Existenzen, die sie schon durchlaufen haben, je nachdem sie mehr oder weniger von ihrem Ausgangspunkt entfernt sind: genau so, wie in einer Versammlung von Individuen jedes Alters. Auch hier wird jeder soweit entwickelt sein, als die Zahl seiner Jahre es mit sich bringt. Die aufeinanderfolgenden Existenzen werden so für das Leben der Seele dasselbe sein, was die Jahre für das des Körpers sind. Versammelt einmal 1000 Individuen von 1 bis zu 80 Jahren, denkt euch, ein Schleier sei über alle vorangegangenen Tage geworfen und ihr hieltet sie so in eurer Unwissenheit alle für an demselben Tage geboren: natürlich würdet ihr euch fragen, wie es kommt, dass die einen groß, die anderen klein, die einen alt, die anderen jung, die einen kenntnisreich, die anderen unwissend sind. Sowie aber die Wolke, die euch die Vergangenheit verbirgt, sich hebt, sowie ihr vernehmt, dass alle mehr oder weniger lang gelebt haben, wird sich euch alles erklären. Gott konnte nicht in seiner Gerechtigkeit mehr oder weniger vollkommene Seelen schaffen; bei einer Vielheit von Existenzen hingegen hat die Ungleichheit, die wir vor uns sehen, nichts mehr, das auch dem strengsten Gerechtigkeitsgefühl widerspräche. Wir sehen eben nur das Gegenwärtige, nicht das Vergangene. Beruht diese Betrachtungsweise auf einem System oder einer banalen Voraussetzung? Nein, wir fußen auf einer offenkundigen, unbestreitbaren Tatsache: auf der Ungleichheit der Fähigkeiten und der intellektuellen wie moralischen Entwicklung und wir finden diese Tatsache unerklärlich bei allen landläufigen Theorien, während ihre Erklärung durch eine andere Theorie doch so einfach, natürlich und logisch ist. Was ist vernünftiger, diejenige vorzuziehen, welche nichts erklärt, oder die, welche etwas erklärt?

Bei der sechsten Frage wird man ohne Zweifel antworten, die Hottentotten seien ein tieferstehendes Volk. Dann fragen wir aber, ob der Hottentotte ein Mensch sei oder nicht? Ist er ein Mensch, warum hat dann Gott ihn und sein Volk der Vorrechte des kaukasischen Volkes enterbt? Ist er aber kein Mensch, warum ihn dann zum Christen machen wollen? Die spiritistische Lehre ist weitherziger als das alles: für sie gibt es nicht mehrere Menschengattungen, sondern nur Menschen, deren Geist mehr oder weniger zurück, aber empfänglich für den Fortschritt ist. Ist dies nicht Gottes Gerechtigkeit entsprechender? Wir sahen soeben die Seele in ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart. Bei der Betrachtung ihrer Zukunft stoßen wir auf dieselben Schwierigkeiten.

1. Wenn unser jetziges Leben allein über unsere Zukunft entscheiden soll, welches wird dann im künftigen Leben die Stellung des Wilden beziehungsweise des Zivilisierten sein? Stehen sie dort auf der gleichen Stufe oder genießen sie in verschiedenem Grad die Summe ewiger Seligkeit?

2. Steht der Mensch, der sein Leben lang an seiner Besserung arbeitete, auf derselben Stufe wie der, welcher zurückblieb, nicht durch seinen eigenen Fehler, sondern weil er weder Zeit noch Möglichkeit hatte, sich zu bessern?

3. Kann der Mensch, der Böses tat, weil er sich nicht bilden konnte, für einen Zustand verantwortlich sein, der nicht von ihm abhing?

4. Man arbeitet an der Aufklärung, Besserung und Zivilisation der Menschen. Aber gegen einen, den man aufklärt, sterben täglich Millionen, bevor das Licht zu ihnen drang. Welches ist das Los dieser Letzteren? Werden sie als Verdammte behandelt? Und im entgegengesetzten Fall, was taten sie, um dasselbe Los zu verdienen, wie die anderen?

5. Welches ist das Los der im frühesten Alter gestorbenen Kinder, die weder Gutes noch Böses tun konnten? Befinden sie sich unter den Auserwählten, woher denn diese Gunst, ohne sie auch verdient zu haben? Durch welches Vorrecht sind sie von den Trübsalen des Lebens befreit? Gibt es überhaupt eine Lehre, die diese Fragen zu lösen vermag? Nehmt aufeinander folgende Existenzen an und alles erklärt sich Gottes Gerechtigkeit entsprechend. Was man in einer Existenz nicht tun konnte, tut man in einer anderen. So entgeht niemand dem Gesetz des Fortschritts, jeder wird nach seinem wirklichen Verdienst belohnt und keiner ist von der höchsten Seligkeit ausgeschlossen, auf die er Anspruch hat, welches auch die Hindernisse waren, die ihn auf seinem Weg begegneten.

Diese Fragen könnten ins Unendliche vermehrt werden, denn die psychologischen und moralischen Rätsel, die ihre Lösung nur in der Vielheit der Existenzen finden, sind unzählig. Wir beschränkten uns nur auf die allgemeinsten. Wie dem nun auch sein mag, wird man etwa sagen, die Reinkarnationslehre sei von der Kirche nicht zugelassen, sie würde also zum Umsturz der Religion führen. Es ist nicht unsere Absicht, jetzt diese Frage zu behandeln, es genügt uns, gezeigt zu haben, dass die Lehre hervorragend moralisch und vernunftgemäß ist, einer Religion nicht widersprechen kann, welche Gottes Güte und Vernunft vorzugsweise verkündigt. Was wäre aus der Religion geworden, wenn sie gegen die allgemeine Ansicht und das Zeugnis der Wissenschaft sich wider den sonnenklaren Beweis verhärtet und jeden ausgestoßen hätte, der nicht an die Bewegung der Sonne und an die sechs Schöpfungstage glaubte? Was für eine Glaubwürdigkeit hätte eine, auf offenbar irrtümliche Glaubensartikel gegründete Religion, bei aufgeklärten Völkern verdient und welches Ansehen sollte eine solche besessen haben? Als die Wahrheit unwidersprechlich erwiesen war, stellte sich die Kirche wohlweislich auf deren Seite. Wird nun aber bewiesen, dass wirklich existierende Dinge unmöglich sind, ohne die Reinkarnation, bleiben gewisse Punkte des Glaubens ohne sie ungeklärt, so wird man wohl zugeben und anerkennen müssen, dass der Widerstreit dieser Lehre mit jenem Glaubenssatz nur ein scheinbarer ist. Später werden wir zeigen, dass die Religion davon vielleicht weniger weit entfernt ist, als man meint, und dass sie davon nicht mehr berührt wird, als einst von der Entdeckung der Erdbewegung und der geologischen Perioden, die auf den ersten Blick dem Wortlaut der heiligen Schriften zu widersprechen schienen. Übrigens geht das Prinzip der Reinkarnation aus mehreren Schriftstellen hervor und findet sich namentlich ausdrücklich im Evang. Matth. XVII., 9 – 13 formuliert:

„Da sie vom Berge herabgingen (nach der Verklärung), gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt dies Gesicht niemand sagen, bis des Menschen Sohn von den Toten auferstanden ist. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Was sagen denn die Schriftgelehrten, Elias müsse zuvor kommen? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Elias soll ja zuvor kommen und alles zurecht bringen. Doch ich sage euch: Es ist Elias schon gekommen, und sie haben ihn nicht erkannt, sondern haben an ihm getan, was sie wollten. Also wird auch des Menschen Sohn leiden müssen vor ihnen. Da verstanden die Jünger, dass er von Johannes, dem Täufer, zu ihnen geredet hatte.“

Da nun Johannes der Täufer Elias gewesen ist, hat also eine Reinkarnation von Elias Geist oder Seele in den Leib des Johannes stattgefunden.

Welcher Ansicht man übrigens auch über die Reinkarnation sein möge, ob man sie annehme oder verwerfe, gefallen lassen muss man sie sich jedenfalls, wenn sie stattfindet, ungeachtet jedes entgegenstehenden Glaubens. Die Hauptsache ist, dass die Belehrung der Geister vorzugsweise christlich ist. Sie stützt sich auf die Unsterblichkeit der Seele, die künftigen Strafen und Belohnungen, die Gerechtigkeit Gottes, den freien Willen des Menschen, die Moral Christi. Also ist sie nicht anti-religiös.

Wir haben unsere Schlüsse gezogen, abgesehen von aller spiritistischen Belehrung, die für gewisse Leute keine Autorität ist. Haben wir, wie so viele andere, die Ansicht von der Vielheit der Existenzen angenommen, so geschah es nicht nur deswegen, weil sie von den Geistern kommt, sondern weil sie uns die vernünftigste scheint und weil sie allein bisher unlösbare Fragen löst. Wäre sie uns von einem gewöhnlich Sterblichen mitgeteilt worden, wir hätten sie ebenfalls angenommen und ebenso wenig gezögert, auf unsere eigene Ansicht zu verzichten. Ist einmal ein Irrtum erwiesen, so hat die Eigenliebe mehr zu verlieren, als zu gewinnen, wenn sie auf einer falschen Ansicht hartnäckig beharrt. Ebenso hätten wir sie verworfen, wenn sie, obschon von den Geistern kommend, uns vernunftwidrig erschienen wäre, wie wir so manche andere verworfen haben. Denn wir wissen aus Erfahrung, dass man nicht blindlings alles, was von ihnen kommt, annehmen darf, so wenig als alles, was von den Menschen kommt.

Ihr erster Anspruch auf Glaubwürdigkeit ist also in unseren Augen, dass sie logisch ist *, ferner, dass sie durch die Tatsache bestätigt wird, durch Tatsachen, die positiv und sozusagen handgreiflich sind und die ein aufmerksames und vernünftiges Studium jedem offenbart, der sich die Mühe nimmt, geduldig und beharrlich zu beobachten und denen gegenüber ein Zweifel nicht mehr gestattet ist. Sind diese Tatsachen einst allgemein bekannt, wie die von der Gestaltung und der Bewegung der Erde, so wird man sich wohl den zwingenden Gründen unterwerfen und die Gegner werden die Kosten ihres Widerspruchs selbst tragen müssen.

Anerkennen wir somit, alles zusammengefasst, dass die Lehre von der Vielheit der Existenzen allein das erklärt, was ohne sie unerklärlich bleibt, dass sie hervorragend tröstlich ist und der strengsten Gerechtigkeit entspricht und dass sie für den Menschen der Hoffnungsanker ist, den ihm Gott in seiner Barmherzigkeit zugeworfen hat. **

Die Worte Jesu selbst können hier keinen Zweifel aufkommen lassen. Folgendes lesen wir im Evangelium Johannes Kap. 3, 3 – 7, wo Jesus zu Nikodemus spricht: ***


* In der 2. Auflage (1860) hatte Allan Kardec im Satz geschrieben: „Es sind die Tatsachen die sie bestätigen.“ Ab der 4. Auflage (1861) wurde dieser Satz weggelassen. (Anmerkung der Übersetzer)
** In der 2. französischen Auflage (1860) weist Allan Kardec am Ende dieses Absatzes auf das Kapitel „Von den Widersprüchen“ hin. Ab der 4. Auflage (1861) hat er diesen Hinweis weggelassen.
*** Die Bibelzitate wurden in der 2. französichen Auflagen (1860) 9 nicht erwähnt. Allan Kardec hat diese in der 4. Auflage dazugenommen und werden auch in den darauffolgenden Auflagen erwähnt. (Anmerkung der Übersetzer)


3. „Wahrlich, wahrlich ich sage dir: es sei denn, dass jemand von Neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen.

4. Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist, kann er auch wieder in seinen Mutterleib eingehen und geboren werden?

5. Jesus antwortete: „Wahrlich, wahrlich ich sage dir, es sei denn, dass jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren wird, ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. Lass dich’s nicht wundern, dass ich dir gesagt habe: „Ihr müsset von Neuem, geboren werden.“ (Siehe unten den Art. „Wiederaufstehung des Fleisches“ Nr. 1010.)