613. So irrig auch der mit der Seelenwanderung verbundene Gedanke sein mag, sollte er nicht die Folge des intuitiven Gefühls der verschiedenen Existenzen des Menschen sein?
„Dieses Gefühl findet sich in diesem Glauben wie in so manchem anderen: der Mensch hat es aber, wie die meisten seiner ursprünglichen Anschauungen, entarten lassen.“
Der Gedanke der Seelenwanderung wäre wahr, wenn man darunter den Fortschritt der Seele von einem tieferen zu einem höheren Zustand verstände, wo sie Entwicklungen durchmachte, die ihre Natur umwandeln würden. Aber er ist falsch in dem Sinne einer direkten Wanderung des Tieres in den Menschen und umgekehrt, was den Gedanken eines Rückschreitens oder einer Verschmel – zung in sich schlösse. Da nun diese Verschmelzung nicht zwischen zwei leiblichen Wesen der beiden Gattungen stattfinden kann, so ist dies ein Beweis, das sie auf nicht assimilierbaren Stufen stehen und dass es sich mit den Geistern, welche jene Wesen beseelen, ebenso verhalten muss. Könnte der gleiche Geist sie abwechselnd beseelen, so folgte daraus eine Gleichheit der Natur, die sich durch die Möglichkeit stofflicher Wiedererzeugung verraten müsste. Die von den Geistern gelehrte Reinkarnation ist auf den aufsteigenden Gang der Natur und den Fortschritt des Menschen innerhalb seines Geschlechts gegründet, was ihm nichts von seiner Würde nimmt. Was ihn erniedrigt, ist der schlechte Gebrauch der ihm von Gott zu seinem Fortschreiten verliehenen Fähigkeiten. Wie dem auch sei, das Alter und die allgemeine Verbreitung der Lehre von der Seelenwanderung und die hervorragenden Menschen, die sie bekannten, beweisen, dass das Prinzip der Reinkarnation seine Wurzeln in der Natur selbst hat. Es sind also viel eher Gründe zu ihren Gunsten als zu ihren Ungunsten vorhanden.
Die Frage nach dem Ausgangspunkt des Geistes ist eine jener Fragen, die an den Ursprung der Dinge rühren und deren Geheimnis uns Gott vorenthält. Dem Menschen ist nicht verliehen, sie vollständig zu lösen, er kann hier nur Vermutungen anstellen und mehr oder weniger wahrscheinliche Systeme aufbauen. Die Geister selbst sind weit davon entfernt, alles zu wissen. Über das, was sie nicht kennen, können sie auch nur mehr oder weniger vernünftige persönliche Ansichten haben. *
So denken z.B. nicht alle gleich über die Beziehungen zwischen dem Menschen und den Tieren. Nach dem einen gelangt der Geist zu seiner menschlichen Periode erst, nachdem er sich auf den verschieden Stufen der niedrigeren Wesen der Schöpfung heraufgearbeitet und individualisiert hat. Nach anderen hätte der Geist der Menschen stets dem menschlichen Geschlecht angehört, ohne durch die Schule der Tierheit zu gehen. Das erste dieser Systeme hat den Vorzug, der Zukunft der Tiere einen Zweck vorzusetzen, so dass sie die ersten Ringe in der Kette der denkenden Wesen bilden würden. Das zweite entspricht mehr der Würde des Menschen und lässt sich in folgendem zusammenfassen.
Die verschiedenen Tiergattungen entstehen nicht in intellektueller Beziehung eine aus der anderen auf dem Weg des Fortschrittes. So wird der Geist der Auster nicht allmählich zu dem des Fisches, des Vogels, des Vierfüßlers und Vierhänders. Jede Gattung ist ein physisch und moralisch für sich bestehender Typus, von dem jedes Einzelwesen an der allgemeinen Quelle die Summe des intelligenten Prinzips schöpft, die ihm von Nöten ist, je nach der Vollkommenheit seiner Organe und dem Werk, das es in den Erscheinungen der Natur zu vollbringen hat und welche es beim Tod an die Masse zurückgibt. Die Tiere derjenigen Welten, die höher stehen als die unsrige (siehe 188.), bilden ebenfalls besondere Rassen, angepaßt den Bedürfnissen jener Welten und dem Grad des Fortschrittes der Menschen, deren Helfer sie sind, die aber keineswegs von denen der Erde abstammen – geistig gesprochen. Anders ist es mit dem Menschen. Vom physischen Gesichtspunkt aus, bildet er offenbar einen Ring in der Kette der lebendigen Wesen; aber vom moralischen Gesichtspunkt betrachtet, bricht der Zusammenhang zwischen Tier und Mensch ab. Der Mensch besitzt als sein Eigentum die Seele oder den Geist, den göttlichen Funken, der ihm den moralischen Sinn und eine Intelligenz gibt, die den Tieren fehlen. In ihm ist das Hauptsächlichste das Wesen, das vor dem Leib existiert und ihn überlebt: der Träger seiner Individualität. Was ist der Ursprung des Geistes? Wo ist sein Ausgangspunkt? Das ist ein Geheimnis, das vergeblich zu durchdringen versucht wurde und über das man, wie gesagt, nur Systeme machen kann. Was aber bleibt und was gleichzeitig aus der Vernunft und der Erfahrung hervorgeht, das ist das Fortleben des Geistes, die Bewahrung seiner Individualität nach dem Tod, seine Fähigkeit des Fortschreitens, sein glücklicher oder unglücklicher Zustand, je nach seinem Fortschritt auf dem Weg des Guten und aller moralischen Wahrheiten, die aus diesem Prinzip folgen. Was die geheimnisvollen Beziehungen zwischen dem Menschen und den Tieren betrifft, so sind sie, wir wiederholen es, das Geheimnis Gottes, wie manche andere Dinge, deren gegenwärtige Erkenntnis zu unserem Fortschreiten nichts beiträgt und in welche es unnütz wäre sich zu vertiefen.
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* Dieser und die drei folgenden Abschnitte waren in der 2. französischen Auflage (1860) nicht aufgeführt. Allan Kardec hat sie später hinzugefügt. Dies ist in der 4. Auflage des Buches der Geister (1861) und aus nachfolgenden Auflagen ersichtlich. (Anmerkung der Übersetzer)