Das Buch der Geister

Allan Kardec

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148. Ist es nicht zu beklagen, dass der Materialismus eine Folge von Studien ist, die im Gegenteil, dem Menschen die Überlegenheit der Intelligenz zeigen sollten, welche die Welt regiert? Sind dieselben deswegen gefährlich?
„Es ist nicht wahr, dass der Materialismus eine Folge jener Studien sei. Der Mensch ist es, der aus denselben falsche Folgerungen zieht, denn missbrauchen kann er alles, selbst die besten Dinge. Das Nichts erschreckt sie übrigens mehr, als sie es gerne durchblicken lassen und die starken Geister sind oft mehr Prahler als tapfer. Die Mehrzahl sind Materialisten, nur weil sie nichts haben, womit sie die Leere in dem Abgrund, der sich vor ihnen auftut, ausfüllen könnten. Zeigt ihnen einen Rettungsanker und sie werden sich eiligst an ihn anklammern.“

Durch eine Verirrung der Intelligenz kommen viele dahin, in den organischen Wesen nur die Wirkung der Materie zu erblicken und daraus alle unsere Handlungen abzuleiten. Sie sahen im menschlichen Leib nur eine elektrische Maschine. Sie studierten den Mechanismus des Lebens nur im Spiel der Organe: sie sahen ihn oft stillstehen wegen des Bruches einer Faser und sahen eben nichts, als diese Faser. Sie suchten, ob sonst noch etwas zu finden sei und da sie nichts fanden, als die jetzt träge gewordene Materie, da sie die Seele nicht sich entfernen sahen und sie nicht greifen konnten, so schlossen sie daraus, dass alles in den Eigenschaften des Stoffes liegt, und dass somit nach dem Tod nur das Nichts des Gedankens übrig bleibe. Traurige Folgerung, wenn es sich damit so verhielte; denn dann wäre das Gute und das Böse zwecklos, der Mensch wäre darauf angewiesen, nur an sich zu denken und die Befriedigung seiner materiellen Genüsse über alles zu setzen; die Bande der Gesellschaft würden zerrissen und die heiligsten Gefühle auf immer vernichtet. Glücklicherweise sind diese Ideen weit entfernt allgemein verbreitet zu sein; man kann selbst sagen, dass sie sehr eingeschränkt und nur individuelle Meinungen sind, denn nirgends sind sie als eigentliche Lehren aufgestellt worden. Eine auf solche Grundlage gestellte Gesellschaft würde den Keim der Auflösung in sich tragen und deren Mitglieder würden sich gleich wilden Tieren einander zerreißen.

Der Mensch hat instinktiv den Gedanken, dass mit dem Leben nicht alles für ihn endet. Er scheut vor dem Nichts zurück: er mag sich lange gegen den Gedanken an die Zukunft verhärten. Wenn das letzte Stündlein schlägt, gibt es wenige, die sich nicht fragen, was aus ihnen werden wird; denn der Gedanke, das Leben für immer zu verlassen, hat etwas Herzzerreißendes. Wer könnte auch eine absolute, ewige Trennung von allem was man geliebt hat, mit Gleichmut betrachten? Wer könnte ohne Entsetzen sich den ungeheuren Abgrund des Nichts vor sich öffnen sehen, von welchem alle unsere Fähigkeiten, alle unsere Hoffnungen für immer verschlungen würden und dann sich sagen: wie? nach mir nichts, nichts mehr, als die Leere; alles ist aus für immer; noch einige Tage, und die Erinnerung an mich wird aus dem Andenken der Überlebenden verschwunden sein. Bald wird keine Spur mehr von meinem Erdendasein vorhanden sein. Selbst das Gute, das ich getan habe, wird vergessen werden von den Undankbaren, die ich mir einst verpflichtet hatte. Und keine Entschädigung für das alles und keine andere Aussicht als die, dass mein Leib von den Würmern zerfressen wird! Hat diese Vorstellung nicht etwas Schauderhaftes, Eisiges? Die Religion lehrt uns, dass es so nicht sein kann und die Vernunft bestätigt es. Aber dieses künftige vage unbestimmte Dasein befriedigt unsere Liebe zum Positiven nicht. Das erzeugt bei vielen den Zweifel. Wir besitzen eine Seele gut; aber was ist unsere Seele?

Hat sie eine Gestalt, irgendeine Sichtbarkeit? Ist sie ein begrenztes oder unbegrenztes Wesen? Die einen sagen, sie sei ein Hauch Gottes, andere ein Funke, andere ein Teil des großen Ganzen, das Prinzip des Lebens und der Intelligenz. Aber was haben wir damit gewonnen? Was nützt es uns, eine Seele zu haben, wenn sie sich nach uns in die Unermesslichkeit verliert, wie die Wassertropfen in das Weltmeer? Ist der Verlust der Individualität für uns nicht gleichbedeutend mit dem Nichts? Man sagt auch, sie sei immateriell. Aber etwas Immaterielles kann keine bestimmten Verhältnisse besitzen. Für uns ist es das Nichts. Die Religion sagt uns auch, dass wir nach dem Guten oder Bösen das wir getan haben, glücklich oder unglücklich sein werden. Aber worin besteht jenes Glück, dass im Schoße Gottes uns erwartet? Ist es eine Seeligkeit, eine ewige Beschaulichkeit, ohne andere Beschäftigung, als das Lob des Schöpfers zu singen? Sind die Flammen der Hölle eine Wirklichkeit oder ein Bild? Die Kirche selbst nimmt sie in letzterem Sinn; aber worin bestehen diese Qualen? Wo ist der Ort der Qual? Kurz, was tut, was sieht man in jener Welt die uns alle erwartet? Niemand, heißt es, ist wiedergekommen, uns darüber zu berichten. Das aber ist ein Irrtum und die Mission des Spiritismus besteht gerade darin, uns über jene Zukunft aufzuklären, und sie bis zu einem gewissen Grad mit Händen greifen und mit den Augen schauen zu lassen, nicht mehr durch bloße Schlüsse, sondern durch Tatsachen. Dank den spiritistischen Mitteilungen ist es keine Ungewissheit mehr, keine bloße Wahrscheinlichkeit, welche jeder nach Belieben weiterspinnt, welche die Dichter mit ihren Bildern schmücken oder mit trügerischen Allegorien ausstatten, die Wirklichkeit ist es, die uns erscheint. Denn es sind die Wesen des Jenseits selbst, welche uns ihre Lage zu schildern und zu sagen kommen, was sie tun, welche uns sozusagen allen Wechselfällen ihres neuen Lebens beizuwohnen gestatten und auf diese Weise uns das unvermeidliche Schicksal zeigen, das uns je nach unseren Verdiensten oder Missetaten vorbehalten ist. Liegt hierin etwas Antireligiöses? Im Gegenteil: denn die Ungläubigen finden hier den Glauben und die Unschlüssigen die Erneuerung ihrer Inbrunst und ihres Vertrauens. Der Spiritismus ist somit der wirkungsvollste Verbündete der Religion. Da dem also ist, so lässt Gott es zu, und er lässt es zu, um unsere wankenden Hoffnungen neu zu beleben und uns durch die Aussicht auf die Zukunft auf den Weg des Guten zurückzuführen.