Das Buch der Geister

Allan Kardec

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In den Augen vieler Leute ist die Opposition der gelehrten Körperschaften wenn nicht ein Beweis, so doch ein starker Vorbehalt gegen den Spiritismus. Wir gehören nicht zu denen, welche Zeter schreien über die Gelehrten und ihnen am liebsten den Garaus machen würden; ganz im Gegenteil achten wir sie hoch und würden uns geehrt fühlen, zu ihnen gezählt zu werden; indessen kann doch unter allen Umständen ihr Urteil kein unwiderrufliches sein.


Sobald die Wissenschaft aus der äußerlichen Beobachtung der Tatsachen heraustritt, sobald es sich darum handelt, diese Tatsachen zu würdigen und zu erklären, ist das Feld für die Vermutung weit geöffnet; da bringt denn ein jeder sein Systemchen mit, dem er Geltung verschaffen möchte und das er daher mit aller Leidenschaft aufrecht erhält. Sehen wir nicht täglich die widersprüchlichsten Ansichten der Reihe nach verherrlicht und dann wieder aufgegeben, bald als törichte Irrtümer zurückgewiesen, dann wieder als unbestreitbare Wahrheiten proklamiert? Die Tatsachen sind das wahre Kriterium für unser Urteil, sie sind der unwiderlegliche Beweis; wo Tatsachen fehlen, da ist der Zweifel die Meinung des Weisen.


Bei bekannten Dingen allerdings, erhebt die Ansicht der Gelehrten einen gerechten Anspruch auf Glaubwürdigkeit, weil sie tatsächlich mehr und besser wissen als das große Publikum; allein wo neue Prinzipien in Frage kommen, unbekannte Dinge der Erörterung harren, ist ihre Art und Weise zu sehen nur eine hypothetische, weil sie ebenso wenig als andere, von Vorurteilen frei sind. Ja, ich gehe so weit zu behaupten, dass der Gelehrte vielleicht mehr Vorurteile hat als ein anderer, weil eine natürliche Neigung ihn veranlasst, alles seinem eigenen Gesichtspunkt unterzuordnen, indem er sich ganz und gar heimisch fühlt; der Mathematiker erkennt nur in einer algebraischen Demonstration einen wirklichen Beweis, der Chemiker führt alles auf die Ursache der Elemente zurück. Jeder Mensch, der in irgend einem Fach ganz besonders zu Hause ist, klammert sich daran mit all seinem Denken; man führe ihn einmal auf ein anderes Gebiet, und er wird nicht selten dummes Zeug schwatzen, weil er eben alles in den selben Topf werfen will. Es ist dies einfach eine Folge menschlicher Schwäche. So wende ich mich denn gern und vertrauensvoll wegen einer Analyse an einen Chemiker, wegen der elektrischen Kraft an einen Physiker, wegen einer bewegenden Kraft an einen Mechaniker; allein dieselben Leute werden mir, ohne dass dies irgendwie der Achtung Eintrag tut, auf welche sie um ihr spezifisches Wissen willen Anspruch haben – aber sie erlauben mir in Sachen des Spiritismus ihrem negativen Urteil nicht in gleichem Mass Rechnung zu tragen, ebenso wenig als für mich das Urteil eines Architekten über eine musikalische Frage maßgebend ist.


Die gewöhnlichen Wissenschaften beruhen auf den Eigenschaften des Stoffes, den man nach Belieben experimentell behandeln kann; die spiritistischen Phänomene beruhen auf der Wirkung von Intelligenzen, die ihren freien Willen haben und uns immer beweisen, dass sie nicht zur Befriedigung unserer Launen zu haben sind. Die Beobachtungen können daher nicht in derselben Weise angestellt werden; sie verlangen besondere Bedingungen und einen anderen Ausgangspunkt; wollte man sie unseren gewöhnlichen Experimentiermethoden unterwerfen, so würde man genötigt sein, Analogien anzunehmen, die gar nicht bestehen.


Die klassische Wissenschaft ist als solche bei der Entscheidung über die Frage des Spiritismus inkompetent: sie hat sich damit nicht zu beschäftigen und ihr Urteil – gleichgültig, ob dasselbe günstig oder ungünstig lautet – kann von keiner Wichtigkeit sein. Der Spiritismus ist das Resultat einer persönlichen Überzeugung, welche die Gelehrten ganz abgesehen von ihrer Eigenschaft als Gelehrte haben können; wollte man dagegen die Frage der Wissenschaft ganz überweisen, so könnte man ebenso gut die Frage, ob die Seele existiert, in einer Versammlung durch eine Mehrheit von Physikern oder Chemikern entscheiden lassen; in der Tat beruht ja der Spiritismus ganz und gar auf der Existenz der Seele und ihrem Zustand nach dem Tod; nun ist es aber doch im höchsten Grad unlogisch zu denken, ein Mensch müsse ein großer Psychologe sein, weil er ein großer Mathematiker oder ein großer Anatom ist. Der Anatom zerschneidet den menschlichen Körper und sucht nach der Seele, und weil er sie unter seinem Messer nicht findet, wie er etwa einen Nerv findet und weil er sie nicht wie ein Gas sich verflüchtigen sieht, so schließt er auf ihre Nichtexistenz, weil er einen exklusiv materiellen Gesichtspunkt einnimmt; folgt denn aber daraus, dass er der allgemeinen Annahme gegenüber recht hat? Nein! Hieraus ergibt sich, dass der Spiritismus gar nicht vor das Forum der klassischen Wissenschaft gehört. Wenn die spiritistischen Lehren im Volk verbreitet sind, wenn sie von den Massen angenommen sein werden – und diese Zeit dürfte bei der Geschwindigkeit, mit der sie sich verbreiten, nicht mehr allzu fern sein – so wird es damit ebenso stehen, wie mit allen neuen Anschauungen, die anfänglich auf Widerstand stießen. Die Gelehrten werden sich dem Offensichtlichen fügen; sie werden persönlich durch die Macht der Tatsachen dahin geführt werden. Bis jetzt ist es noch nicht an der Zeit, die Wissenschaftler von ihren Spezialarbeiten abzulenken und zur Beschäftigung mit etwas Unbekanntem zu drängen, das weder zu ihren Attributen noch zu ihrem Programm gehört. Inzwischen vergessen die, welche ohne vorgängiges, gründliches Studium des Gegenstandes ein negatives Urteil fällen und jeden, der nicht Ihrer Ansicht ist, verhöhnen, einen Punkt, nämlich den, dass bei der Mehrzahl der großen, die Menschheit ehrenden Entdeckungen schon Ähnliches vorgekommen ist; sie setzen sich der Gefahr aus, dass ihre Namen die Liste der berüchtigten Verfolger neuer Ideen vermehren und neben den Mitgliedern der gelehrten Versammlung prangen, die im Jahre 1752 mit schallendem Gelächter den Bericht Franklins über Blitzableiter begrüßten und eine Aufnahme desselben in die Register der Eingänge verweigerte: sie laufen Gefahr, dem zu gleichen, der Frankreich um die Ehre betrogen hat, bei Anwendung der Dampfkraft zu Navigationszwecken die Initiative ergriffen zu haben und das System Fultons für eine unrealistische Träumerei erklärte. Und doch waren dies alles Fragen, die vor das Forum der Gelehrten gehörten. Wenn also jene Körperschaften, welche die Elite der Gelehrtenwelt zu den ihrigen zählten, nur Spott und Hohn für Ideen gehabt haben, die sie nicht begriffen, Ideen, welche einige Jahre später die Wissenschaft, Sitten und Industrie durchgreifend verändern sollten, wie darf man hoffen, dass eine, ihren Arbeiten fremde Frage, mehr Gunst erhalten soll?


Irrtümer Einzelner, die um der Irrenden selbst willen bedauerlich sind, können natürlich anderweitige Verdienste nicht schmälern; allein bedarf es denn eines offiziellen Examenzeugnisses, um gesunden Menschenverstand zu haben und gibt es denn nur Dumme und Schwachköpfe außerhalb der akademischen Lehrstühle? Man werfe doch einmal die Augen auf die Anhänger der spiritistischen Lehre und frage sich, ob man hier wirklich nur Ignoranten begegnet und ob die gewaltige Anzahl hochverdienter Menschen, die sich zu ihr bekennen, es erlaubt, die Lehre als Ausgeburt bornierten Aberglaubens zu qualifizieren. Ihr Charakter und Wissen verdienen es doch wohl, dass man sich sagt: „Wenn solche Menschen die Sache bestätigen, so muss doch wohl etwas Wahres daran sein.“


Noch einmal wiederholen wir, dass, wenn die uns beschäftigenden Tatsachen innerhalb der mechanischen Körperbewegung geblieben wären, die Untersuchung über die physische Ursache des Phänomens der Wissenschaft zufallen müsste; jedoch sobald es sich um eine Kundgebung außerhalb der Gesetze der Menschheit handelt, tritt die Untersuchung aus dem Rahmen der materiellen Wissenschaft heraus, denn sie kann dann weder ziffernmäßig noch auf mechanischem Weg zum Ausdruck gelangen. Sobald sich eine neue Tatsache vor uns erhebt, die keiner der bekannten Wissenschaften zugewiesen werden kann, muss der Gelehrte zu ihrem Studium von seiner Wissenschaft ganz absehen, er muss sich sagen, dass dies für ihn ein ganz neues Studium ist, an das er mit vorgefassten Ideen nicht herangehen darf.


Der Mensch, der seine Vernunft für unfehlbar hält, steht nahe am Irrtum, stützen sich doch sogar solche, welche die grundfalschesten Vorstellungen haben, auf ihre Vernunft: auf diesem Boden stehend weisen sie alles ab, was ihnen unmöglich erscheint; was man Vernunft nennt, ist oft nur halbverhüllter Hochmut, und wer sich für unfehlbar hält, will sich Gott gleichsetzen. Wir wenden uns also an solche Leute, welche klug genug sind, an dem zu zweifeln, was sie nicht gesehen haben und die von der Vergangenheit auf die Zukunft schließend, sich von dem Wahnglauben fern halten, als wäre der Mensch auf dem Höhepunkte der Entwicklung angelangt, als habe Mutter Natur für ihn die letzte Seite ihres Buches bereits umgewendet.