Das Buch der Geister

Allan Kardec

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Wer da sagt, dass der spiritistische Glaube die Welt zu erobern drohe, verkündigt eben damit dessen Macht; denn eine grundlose und vernunftwidrige Idee kann nicht zu einer allgemeinen werden. Wenn daher der Spiritismus überall und – wie jedermann anerkennt, besonders unter den gebildeten Klassen Boden gewinnt, so muss ihm eine Wahrheit zugrunde liegen. Gegen diese Richtung werden alle Bemühungen seiner Verkleinerer und Lästerer sich als eitel erweisen: Beweis davon ist, dass selbst das Lächerliche, in das sie ihn zu ziehen suchten, weit davon entfernt ist seinen Aufschwung niederzuhalten, ihm vielmehr neues Leben einzuhauchen schien. Dieses Ergebnis rechtfertigt vollständig das, was uns so oft schon die Geister erklärt haben: „Kümmert euch nicht um den Widerstand: Alles, was man wider euch tut, wird zu euren Gunsten ausfallen und eure größten Gegner werden eurer Sache dienen, ohne es zu wollen. Gegen den Willen Gottes vermag der üble Wille der Menschen nichts.“

Durch den Spiritismus soll die Menschheit in einen neuen Abschnitt ihrer Entwicklung eintreten, in den des moralischen Fortschritts, der seine unvermeidliche Folge ist. Wundert euch daher nicht mehr über die Schnelligkeit, mit der sich die spiritistischen Ideen verbreiten. Ihr Grund liegt in der Befriedigung, die sie allen denen bieten, welche sie tiefer ergründen und darin etwas anderes erblicken, als nur einen schlechten Zeitvertreib. Da man nun vor allem seinem Glück nachstrebt, so ist es nicht zu verwundern, wenn man sich einer Idee hingibt, die einen glücklich macht.

Die Entwicklung dieser Ideen teilt sich in drei Perioden: Die erste ist diejenige der Neugierde, die durch die Seltsamkeit der auftretenden Erscheinungen wachgerufen wurde, die zweite die der Beurteilung und der Philosophie, die dritte die der Anwendung und der Folgerungen. Die Zeit der Neugierde ist jetzt vorüber, die Neugierde hat nur eine Zeit: Einmal befriedigt, verlässt sie ihren Gegenstand und wendet sich zu einem anderen. Nicht so verhält es sich dagegen mit dem, was ernstes Denken und Urteil herausfordert. Die zweite Periode hat nun begonnen, und die dritte wird nicht auf sich warten lassen. Die Fortschritte des Spiritismus datieren besonders von der Zeit, wo man sein inneres Wesen besser erkannte und wo man seine Tragweite zu ermessen verstand; denn er berührt die empfindlichste Seite des Menschen, die Seite seines Glücks, selbst schon in dieser Welt. Hier liegt der Grund seiner Ausbreitung, das Geheimnis seiner Stärke, die ihn zum Sieg führen wird. Selbst wer ein Zeuge von tatsächlichen Erscheinungen dieser Art war, wird sich sagen: Außerhalb dieser Erscheinungen steht die Philosophie und diese Philosophie erklärt mir, was keine andere mir erklärte. Ich finde in derselben schon in ihren Urteilen und Schlüssen eine vernünftige Beweisführung in Betreff der Fragen, bei denen meine Zukunft im höchsten Grad interessiert ist: Sie gibt mir Ruhe, Sicherheit, Vertrauen, sie befreit mich von den Qualen der Ungewissheit, und dem gegenüber erscheint die Frage nach dem Tatsächlichen erst in zweiter Linie. Sucht ihr, die Gegner des Spiritismus, ein erfolgreiches Mittel ihn zu bekämpfen, so will ich es euch nennen: Ersetzt ihn durch etwas Besseres, sucht mit einer besseren Philosophie alle jene Fragen zu lösen, die er löst, verschafft dem Menschen eine andere Gewissheit, die ihn glücklicher zu machen vermag; merkt euch aber dabei wohl die Tragweite des Wortes „Gewissheit“, denn der Mensch nimmt als gewiss nur dasjenige an, was ihm vernunftgemäß erscheint. Begnügt euch nicht damit zu sagen: ,,Es ist nicht so“: Das ist zu leicht. Beweist vielmehr, nicht mit einer bloßen Verneinung, sondern mit Tatsachen, dass es nicht so ist, dass es nie so gewesen war und nicht so sein könne. Wenn es aber nicht ist, so sagt uns vor allem, was stattdessen sein würde. Beweist endlich, dass die Folgen des Spiritismus nicht darin bestehen, die Menschen besser und folglich glücklicher zu machen, indem er sie die reinste evangelische Moral üben lehrt, jene Moral die so viel gepriesen, aber so wenig geübt wird. Sobald euch dies gelungen ist, dann habt ihr das Recht ihn anzugreifen.

Der Spiritismus ist stark, weil er sich auf die Grundlagen der Religion selbst stützt: auf Gott, die Seele, die künftigen Strafen und Belohnungen, hauptsächlich aber, weil er diese Strafen und Belohnungen als natürliche Folgen des irdischen Lebens nachweist und weil von dem Bild, das er von dem Zukünftigen entwirft, nichts – selbst nicht von der anspruchsvollsten Vernunft – in Abrede gestellt werden kann. Ihr, deren ganze Weisheit in der Leugnung alles Zukünftigen aufgeht – ,was für einen Ersatz bietet ihr für unsere Leiden hier auf Erden? Ihr stützt euch auf den Unglauben, der Spiritismus stützt sich auf das Gottvertrauen. Währenddieser die Menschen zum Glück, zur Hoffnung, zur wahrhaften Brüderlichkeit einlädt, bietet ihr ihnen das Nichts als Perspektive und den Egoismus als ihren Trost. Er führt seine Beweise mit Tatsachen, ihr beweist gar nichts: Wie könnt ihr noch verlangen, dass man zwischen den beiden Lehren schwanke?