Das Buch der Geister

Allan Kardec

Zurück zum Menü
165. Übt die Kenntnis des Spiritismus einen Einfluss auf die kürzere oder längere Dauer jener Verwirrung?

„Einen ganz bedeutenden, weil der Geist dann seine Lage zum Voraus kennt. Gutes tun und ein reines Gewissen, haben aber doch den größten Einfluss.“


Im Augenblick des Todes ist zunächst alles verworren. Die Seele braucht einige Zeit, um sich wiederzuerkennen, sie ist wie betäubt und etwa in dem Zustand eines, aus tiefem Schlaf Erwachenden, der sich über seine Lage zu orientieren versucht. Die Klarheit der Gedanken und die Erinnerung an das Vergangene kehren in dem Maß wieder, als der Einfluss des Stoffes, von dem sie sich eben erst befreite, abnimmt und den Nebel zerstreut, der seine Gedanken noch verdunkelte.


Die Dauer der Verwirrung ist sehr verschieden. Sie kann einige Stunden so gut wie mehrere Monate, selbst Jahre andauern. Sie ist bei denen am wenigsten lang, die sich schon während des irdischen Lebens mit ihrem künftigen Zustand identifiziert haben, weil dieselben dann sofort ihre Lage erkennen.


Diese Verwirrung bietet eigentümliche Umstände dar, je nach dem Charakter der Individuen und besonders je nach der Todesart. Bei den gewaltsamen Todesarten wie Selbstmord, Hinrichtung, Unfall, Schlaganfall, Totschlag u.s.w. ist der Geist überrascht, verwundert und glaubt nicht, dass er tot sei. Er behauptet dies mit Hartnäckigkeit. Dennoch sieht er seinen Leib, er weiß, dass es der seinige ist und kann es nicht fassen, dass er davon getrennt sein soll. Er geht zu den Personen, die er liebt, spricht zu ihnen und begreift nicht, warum sie ihn nicht hören. Diese Illusion dauert bis zur völligen Befreiung des Perispirits: dann erst erkennt der Geist sich wieder und begreift, dass er nicht mehr zu den Lebendigen gehört. Diese Erscheinung erklärt sich leicht. Unerwartet vom Tod überfallen, wird der Geist von der plötzlichen mit ihm vorgehenden Veränderung betäubt. Ihm ist der Tod noch gleich Zerstörung,Vernichtung. Da er nun aber denkt, sieht, hört, so ist er seiner Meinung nach nicht tot. Was seine Illusion vermehrt, ist dass er sich in einem, seinem früheren ähnlichen Körper erblickt, dessen ätherische Natur er aber noch nicht verstehen gelernt hat. Er hält denselben für fest und dicht, wie den ersten, und wenn man ihn auf diesen Punkt aufmerksam macht, so verwundert er sich, dass er sich nicht betasten kann. Dieses Phänomen ist analog demjenigen der Somnambulen, welche nicht zu schlafen meinen. Bei ihnen ist der Schlaf gleichbedeutend mit Aufhebung der Geistestätigkeiten, und da sie frei denken und sehen können, so glauben sie nicht zu schlafen. Einige Geister bieten diese Eigentümlichkeit dar, obschon sie keines unerwarteten Todes starben; sie ist aber stets allgemeiner bei denjenigen, welche, obwohl krank, nicht zu sterben glaubten. Dann sieht man das eigentümliche Schauspiel eines Geistes, der seinem eigenen Begräbnis, wie demjenigen eines Fremden beiwohnt und davon spricht, als ginge er ihn nichts an, bis er endlich die Wahrheit begreift.


Die auf den Tod folgende Verwirrung hat für den guten Menschen nichts Qualvolles. Sie ist eine ruhige, stille, wie die beim Erwachen aus sanftem Schlaf. Für den aber, dessen Gewissen nicht rein, ist sie voll Angst, die mit dem sich Wiedererkennen zunimmt.


Bei Fällen, wo viele Menschen gleichzeitig umkommen, machte man die Beobachtung, dass sich nicht alle sofort wiedersehen. In der Verwirrung, die dem Tod folgt, geht jeder seines eigenen Weges und kümmert sich nur um die, welche ihn interessieren.