Das Buch der Geister

Allan Kardec

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KAPITEL V
IV. DAS GESETZ DER ERHALTUNG

1. Erhaltungstrieb. – 2. Erhaltungsmittel. – 3. Genuss irdischer Güter. – 4. Notwendiges und Überflüssiges.
– 5. Freiwillige Entsagung. Kasteiung.


Erhaltungstrieb.

702. Ist der Erhaltungstrieb ein Naturgesetz?

„Ohne Zweifel. Er ist allen lebenden Wesen eingepflanzt, welches auch die Stufe ihrer Intelligenz sein mag. Bei den einen ist er rein mechanisch, bei anderen vernunftgemäß.“

703. Zu welchem Zweck gab Gott allen lebenden Wesen den Erhaltungstrieb?

„Weil alle zu den Absichten der Vorsehung mitwirken sollen. Darum gab ihnen Gott das Bedürfnis zu leben. Sodann ist das Leben notwendig zur Vervollkommnung der Wesen: Sie fühlen dies instinktartig, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben.“

Erhaltungsmittel.

704. Hat Gott, so wie er dem Menschen das Bedürfnis zu leben einpflanzte, ihm auch immer die Mittel dazu dargereicht?

„Ja, und wenn er sie nicht findet, so kommt dies nur daher, dass er sie nicht erkennt. Gott konnte dem Menschen nicht das Bedürfnis zu leben geben, ohne ihm auch die Mittel dazu zu geben; darum lässt er die Erde Dinge hervorbringen, die ihren Bewohnern alles Notwendige bieten; denn nur das Notwendige ist nützlich, das Überflüssige ist es nie.“

705. Warum erzeugt die Erde nicht immer so viel, um den Menschen das Nötige liefern zu können?

„Weil der Mensch sie vernachlässigt, der Undankbare! Sie ist doch eine vortreffliche Mutter. Oft auch klagt der Mensch die Natur dessen an, was doch nur die Folge einer Unerfahrenheit oder seines Mangels an Voraussicht ist. Die Erde würde stets das Nötige erzeugen, wenn der Mensch sich damit zu begnügen wüsste. Wenn sie nicht allen Bedürfnissen entspricht, so kommt dies daher, dass der Mensch das, was zum Nötigen gebraucht werden sollte, auf das Überflüssige verwendet. Sieh den Araber der Wüste, er findet stets zu leben, weil er sich keine künstlichen Bedürfnisse schafft. Wenn aber die Hälfte der Erzeugnisse zur Befriedigung von unnützen Einfällen verschleudert wird, darf sich der Mensch dann wundern, am folgenden Tag nichts mehr zu finden und darf er sich beklagen, dass er nichts mehr vor sich sieht, wenn die Zeit der Entbehrung herankommt? Wahrlich ich sage euch, nicht der Natur mangelt es an Voraussicht, nur der Mensch weiß sein Leben nicht zu ordnen.“

706. Dürfen unter den Gütern der Erde nur die Erzeugnisse des Bodens verstanden werden?

„Der Boden ist die erste Quelle, dem alle anderen Hilfsmittel entströmen, denn schließlich sind die letzteren nur Umwandlungen der Bodenerzeugnisse. Daraus ist unter den Gütern der Erde alles zu verstehen, was der Mensch hier auf Erden genießen kann.“

707. Die Existenzmittel gehen gewissen Individuen zuweilen ab, selbst mitten in dem sie umgebenden Überfluss. Wem haben sie dies dann zuzuschreiben?

„Dem Egoismus der Menschen, die nicht immer tun, was sie sollen. Suchet, so werdet ihr finden, diese Worte besagen keineswegs, dass es genügt, auf den Boden zu schauen, um gleich das zu finden, was man wünscht, sondern dass man mit Eifer und Beharrlichkeit und nicht in weichlichem Behagen zu suchen habe, ohne sich durch die Hindernisse entmutigen zu lassen; denn durch diese soll oft nur eure Beständigkeit, Geduld und Festigkeit auf die Probe gestellt werden.“ (534.)

Wenn die Zivilisation die Bedürfnisse vermehrt, so vermehrt sie zugleich die Quellen der Arbeit und die Mittel zum Leben. Allerdings aber bleibt derselben hier noch viel zu tun übrig. Hat sie einst ihre Aufgabe vollendet, so wird keiner mehr sagen können, dass es ihm am Notwendigen fehle, es sei denn durch seinen eigenen Fehler. Für viele ist das das Unglück, dass sie auf einem Weg bleiben wollen, den ihnen die Natur nicht vorzeichnete. Dann lässt sie die zum Gelingen nötige Intelligenz im Stich. Es ist Raum für jeden auf der Erde, aber unter der Bedingung, dass jeder seine eigene und nicht die Stelle der anderen einnehme. Die Natur kann nicht für die Fehler der sozialen Ordnung und die Folgen des Ehrgeizes und der Eigenliebe verantwortlich gemacht werden.

Indessen müsste man blind sein, wenn man den Fortschritt, der bei den vorgerücktesten Völkern gemacht wurde, nicht sehen wollte. Dank der unermüdlichen löblichen Bestrebungen der vereinigten Menschenliebe und Wissenschaft zur Verbesserung der materiellen Lage der Menschen und trotz dem stetigen Zunehmen der Bevölkerung wurde dem Mangel an Produktion, wenigstens größtenteils, gegengesteuert und die schlimmsten Hungerjahre lassen sich nicht mehr mit denjenigen der jüngsten Vergangenheit vergleichen. Die öffentliche Gesundheitspflege, jenes für Kraft und Wohlsein so wesentliche Element, das unseren Vätern noch unbekannt gewesen ist, ist jetzt der Gegenstand sorgfältigster Ergründung. Unglück und Leiden finden ihre Zufluchtsstätten und überall muss sich die Wissenschaft zur Vermehrung des Wohlstandes in Anspruch nehmen lassen. Wollen wir damit etwa sagen, dass man die Vollkommenheit schon erreicht hat? Oh, gewiss nicht, aber was bisher geschehen ist, daraus lässt sich schließen, was künftig geschehen kann, wenn der Mensch Ausdauer und Weisheit genug zeigt, um das Glück in tatsächlichen und ernsten Dingen und nicht in unausführbaren Träumereien sucht, die ihn nur rückwärts statt vorwärts bringen.

708. Gibt es nicht Lagen, wo die Mittel zum Leben keineswegs vom menschlichen Willen abhängen, und wo der Mangel selbst des allernotwendigsten eine Folge der Macht der Umstände ist?

„Das ist eine oft sehr harte Prüfung für den Menschen, von der er aber wusste, dass er sich ihr zu unterziehen haben wird. Dann liegt sein Verdienst in der Ergebung in den Willen Gottes, wenn sein Verstand ihm keinen Weg weist, sich aus der Verlegenheit zu ziehen. Ist ihm der Tod verhängt, so soll er sich ohne Murren ergeben mit dem Gedanken, dass die Stunde der wahren Befreiung gekommen und dass die Verzweiflung des letzten Augenblickes ihn um die Frucht seiner Ergebung bringen kann.“

709. Begingen jene ein Verbrechen, welche in gewissen gefahrvollen Lagen sich darauf angewiesen sahen, ihresgleichen zu opfern, um sich selbst zu nähren? Und wenn es ein Verbrechen war, wird dasselbe durch das Bedürfnis nach Speise, das ihnen der Selbsterhaltungstrieb eingibt, gemildert?

„Ich antwortete schon, indem ich sagte, dass es ein größeres Verdienst sei, alle Prüfungen des Lebens mutig und mit Ergebenheit zu ertragen. Jenes ist Menschenmord und ein Verbrechen gegen die Natur und verdient doppelte Strafe.“

710. Bedürfen die lebenden Wesen auf den höheren organisierten Welten noch der Nahrung?

„Ja, aber ihre Nahrung richtet sich nach ihrer Natur. Diese Nahrung wäre für eure groben Mägen nicht fest und stofflich genug und ebenso wenig könnten sie die eurige verdauen.“

Genuß irdischer Güter.

711. Haben alle Menschen ein Recht auf den Genuss der Güter der Erde?

„Dieses Recht folgt aus der Notwendigkeit, leben zu müssen. Gott kann nicht eine Pflicht geboten haben, ohne auch die Mittel zu deren Erfüllung zu bieten.“

712. Zu welchem Zweck verknüpft Gott einen Reiz mit den Genüssen der irdischen Güter?

„Um den Menschen zur Erfüllung seiner Mission anzutreiben und gleichzeitig um ihn durch die Versuchung zu erproben.“

712a. Und was ist der Zweck der Versuchung?

„Die Entwicklung seiner Vernunft, welche ihn vor Ausschweifungen bewahren soll.“

Wenn der Mensch nur im Hinblick auf den Nutzen zum Gebrauch der irdischen Güter gereizt worden wäre, so hätte seine Gleichgültigkeit die Harmonie des Universums gefährden können: darum gab ihm Gott den Reiz der Lust bei, der ihn zur Vollführung der Absichten der Vorsehung antreibt. Aber gerade durch diesen Reiz wollte ihn Gott außerdem noch in der Versuchung prüfen, die ihn zum Missbrauch zu verleiten sucht, vor dem ihn seine Vernunft bewahren soll.

713. Haben die Genüsse ihre von der Natur gezogenen Grenzen?

„Ja, damit ihr die Grenze des Notwendigen erkennt. Aber durch eure Ausschweifungen gelangt ihr schließlich zum Überdruss und straft euch damit selbst.“

714. Was ist von dem Menschen zu halten, der in Ausschweifungen aller Art eine Verfeinerung und Steigerung seiner Genüsse sucht?

„Eine armselige Seele, die man beklagen muss und nicht beneiden kann, denn sie ist nicht mehr weit vom Tod!“

714a. Nähert sie sich dem leiblichen oder dem moralischen Tod?

„Beiden.“

Der Mensch, der in Ausschweifungen aller Art eine Verfeinerung und Steigerung des Genusses sucht, stellt sich unter das Tier; denn das Tier hält inne nach der Befriedigung seines Bedürfnisses. Er entlässt die ihm von Gott mitgegebene Führerin Vernunft und je größer seine Ausschweifungen sind, desto mehr Herrschaft räumt er seiner tierischen Natur über seine geistige ein. Krankheiten und Schwachheit, ja der Tod selbst – die Folgen des Missbrauchs – werden ihm zugleich zur Strafe für die Übertretung des Gesetzes Gottes.

Notwediges und Überflüssiges.

715. Wie kann der Mensch die Grenze des Notwendigen erkennen?

„Der Weise erkennt sie intuitiv. Viele erkennen sie durch ihre Erfahrung und auf ihre eigenen Kosten.“

716. Hat nicht die Natur durch unsere physische Veranlagung selbst die Grenzen für unsere Bedürfnisse gezogen?

„Ja, aber der Mensch ist unersättlich. Die Natur hat die Grenzen der Bedürfnisse durch die physische Veranlagung gezogen, aber die Laster haben seine Leibesbeschaffenheit gefälscht und verändert und ihm Bedürfnisse geschaffen, die keine tatsächlichen mehr sind.“

717. Was ist von denen zu halten, die die Güter der Erde an sich reißen, um sich Überflüssiges auf Kosten derer zu verschaffen, die am Notwendigen Mangel leiden?

„Sie verkennen Gottes Gesetz und werden die Entbehrungen, die sie verursachten, zu verantworten haben.“

Die Grenze zwischen Notwendigem und Überflüssigem ist keine unverrückbare. Die Zivilisation schuf Notwendigkeiten, welche der wilde Zustand nicht kennt und die Geister, die obige Vorschriften diktierten, behaupten nicht, dass der Zivilisierte leben soll wie der Wilde. Alles ist je nach Verhältnis: das Geschäft der Vernunft ist es, jedem Ding seinen Platz anzuweisen. Die Zivilisation entwickelt den moralischen Sinn und zugleich das Gefühl der Nächstenliebe, das die Menschen antreibt, sich gegenseitig zu unterstützen. Wer auf Kosten der Entbehrungen anderer die Wohltaten der Zivilisation für sich selbst ausbeutet, hat von der Zivilisation nur den Firnis, sowie gewisse Leute von der Religion nur den Schein.

Freiwillige Entsagung. Kasteiung.

718. Verpflichtet das Gesetz der Selbsterhaltung zur Sorge für die Bedürfnisse des Leibes?

„Ja, ohne Kraft und Gesundheit ist keine Arbeit möglich.“

719. Ist es für den Menschen tadelnswert, nach Wohlbehagen zu trachten?

„Das Wohlbehagen ist ein natürlicher Wunsch. Gott verbietet nur den Missbrauch, weil dieser der Selbsterhaltung widerspricht. Er sieht kein Verbrechen in dem Trachten nach Wohlbehagen, wenn dieses auf niemandes Kosten erworben wird und wenn es weder eure moralische noch eure physische Kraft schwächt.“

720. Hat freiwillige Entsagung zum Zweck einer ebenso freiwilligen Sühne in Gottes Augen ein Verdienst?

„Erweist den andern Gutes und ihr werdet euch größeres Verdienst erwerben.“

720a. ‘Gibt es überhaupt eine verdienstliche, freiwillige Entsagung?

„Ja, die Entsagung gegenüber unnützen Genüssen, weil sie den Menschen vom Stoff befreit und seine Seele erhebt. Das Verdienstliche besteht im Widerstand gegen die Versuchung, die zum Übermaß oder zum Genuss unnützer Dinge reizt; das heißt dann, vom eigenen Notwendigen zu nehmen und es denen zu geben, die nicht genug haben. Ist die Entsagung ein leeres Trugbild, so ist sie ein Hohn.“

721. Asketische Kasteiungen sind das ganze Altertum hindurch und bei den verschiedensten Völkern geübt worden. Sind dieselben unter irgend einem Gesichtspunkt verdienstlich?

„Fragt euch selbst, wem sie dienen und ihr werdet die Antwort finden. Dienen sie nur dem, der sie übt und den sie Gutes zu tun hindern, so ist dies Egoismus, welches auch der Vorwand sei, mit dem man sie begründet. Entsagen und für andere arbeiten, das ist die wahre Kasteiung und entspricht der christlichen Nächstenliebe.“

722. Ist die Enthaltung von gewissen Nahrungsmitteln wie sie bei verschiedenen Völkern vorgeschrieben ist, in der Vernunft begründet?

„Alles, wovon sich der Mensch ohne Schaden für seine Gesundheit nähren kann, ist erlaubt. Die Gesetzgeber konnten euch gewisse Nahrungsmittel zu einem nützlichen Zweck verbieten und stellten euch dann solche Gesetze, um ihnen mehr Achtung zu verschaffen, als von Gott kommend dar. “

723. Ist die Fleischnahrung beim Menschen gegen das Naturgesetz?

„Bei eurer leiblichen Beschaffenheit nährt Fleisch das Fleisch, sonst verkümmert der Mensch. Das Gesetz der Erhaltung macht es dem Menschen zur Pflicht, seine Kräfte und seine Gesundheit zu erhalten, um das Gesetz der Arbeit zu erfüllen. Er soll sich also so nähren, wie es seine Leibesbeschaffenheit erfordert.“

724. Ist die Enthaltung von tierischer oder anderer Nahrung verdienstlich als Sühnung?

„Ja, wenn man sich zu Gunsten anderer enthält, Gott kann aber keine Kasteiung billigen, wenn sie nicht eine ernstgemeinte und gemeinnützige ist. Darum sagen wir, dass die, welche sich nur zum Schein enthalten, Heuchler sind.“ (720.)

725. Was ist von den Verstümmelungen des Leibes des Menschen und der Tiere zu halten?

„Wozu eine solche Frage? Fragt euch doch noch einmal, ob eine Sache nützlich sei. Was unnütz ist, kann Gott nicht gefallen und was schädlich ist, missfällt ihm immer; denn wisset, Gott freut sich nur über die Gefühle, welche die Seele zu ihm erheben. Nicht wenn ihr sein Gesetz verletzt, sondern wenn ihr es befolgt, könnt ihr eueren irdischen Stoff allmählich abschütteln.“

726. Wenn uns die Leiden dieser Welt durch die Art, wie wir sie ertragen, erheben, erhebt man sich dann auch durch solche, die man selbst auferlegt?

„Die einzigen uns wirklich erhebenden Leiden sind die natürlichen, weil sie von Gott kommen; die freiwillig übernommenen dienen zu nichts, wenn sie kein Gutes für andere stiften. Glaubst du denn, die, welche ihr Leben durch übermenschliche Strenge und Grausamkeit abkürzen, wie die Bonzen, Fakire und gewisse Fanatiker verschiedener Sekten, kommen auf ihrer Bahn vorwärts? Warum arbeiten sie nicht vielmehr zum Besten von ihresgleichen? Die Armen mögen sie kleiden, die Weinenden trösten, für den Schwachen arbeiten, zur Tröstung der Unglücklichen mögen sie sich Entbehrungen auferlegen, dann wird ihr Leben ein Gott wohlgefälliges sein. Wenn man bei freiwilligem Leiden nur an sich selbst denkt, so ist das Egoismus; leidet man aber für andere, so ist es Nächstenliebe. Das sind Christi Gebote.“

727. Wenn man sich keine freiwilligen Leiden auferlegen soll, da sie von keinem Nutzen für andere sind, darf man sich dann vor solchen bewahren, die man voraussieht oder die uns bedrohen?

„Der Trieb der Selbsterhaltung wurde allen Wesen eingepflanzt gegenüber Gefahren und Leiden. Geißelt euren Geist und nicht euren Leib, tötet eueren Hochmut ab, erstickt euren Egoismus, der euch, einer Schlange gleich, am Herzen nagt und ihr werdet mehr ausrichten zu eurem Vorwärtskommen, als durch Grausamkeiten, die nicht mehr in unser Jahrhundert passen.“