Das Buch der Geister

Allan Kardec

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Obige Bemerkungen geben uns den Anlass, noch einige Worte über eine andere Schwierigkeit zu sagen, wir meinen die im sprachlichen Ausdruck der Geister bestehende Divergenz.


Da die Geister bezüglich ihrer Kenntnisse und ihrer Moral so überaus verschieden sind, so ist es offensichtlich, dass dieselbe Frage von ihnen in entgegengesetztem Sinn gelöst werden kann, je nach dem Rang, den sie einnehmen, genau als würde sie unter Menschen erst einem Gelehrten, dann einem Unwissenden oder einem Spaßvogel vorgelegt. Das Wesentliche ist, den zu kennen, an welchen man sich wendet.


Aber, wie kommt es, fügt man hinzu, dass Geister, welche anerkanntermaßen zu den höheren gehören, nicht immer ein und derselben Meinung sind? Zuerst müssen wir bemerken, dass ganz unabhängig von der soeben angedeuteten Ursache es noch andere Ursachen gibt, die einen unverkennbaren Einfluss auf das Wesen der Antworten üben, vollständig abgesehen von der Qualität der Geister. Es ist dies ein hochwichtiger Punkt, zu dessen Erklärung eingehenderes Studium erforderlich ist: aus diesem Grund sagen wir ja auch, dass spiritistische Studien eine anhaltende Aufmerksamkeit, eine gründliche Beobachtung, und überdies, wie ja alle menschlichen Wissenschaften, Ordnung und Beharrlichkeit verlangen. Jahre sind nötig, um einen mittelmäßigen Arzt, und drei Viertel eines Menschenlebens, um einen gelehrten Arzt zu machen: und hier will man die Wissenschaft des Unendlichen in einigen Stunden sich erwerben! Man täusche sich doch nicht: das Studium des Spiritismus ist ein unermessliches Feld; es berührt sich mit allen Fragen der Metaphysik und der sozialen Ordnung; es ist dies eine ganz neue Welt, die sich vor uns öffnet, und da staunt man noch, dass Zeit, viel Zeit erforderlich ist?


Übrigens ist der Widerspruch nicht immer so tatsächlich begründet, wie es den Anschein hat. Sehen wir nicht alle Tage, dass Menschen, welche die gleiche Wissenschaft vertreten, in der Definition irgendeiner Sache voneinander abweichen, sei es, dass sie verschiedene Ausdrücke anwenden, sei es, dass sie dieselbe unter anderem Gesichtspunkt betrachten, wenn auch der Grundgedanke immer derselbe ist? Man zähle nur einmal, wenn es möglich ist, die Zahl der Definitionen von „Grammatik“. Fügen wir noch bei, dass die Form der Antwort oft von der Form der Frage abhängt. Es wäre also kindisch, wollte man da einen Widerspruch finden, wo es sich meistens nur um eine Wortdifferenz handelt. Die höheren Geister haften keineswegs an der Form; für sie ist der Kern des Gedankens alles.


Nehmen wir z.B. die Definition von „Seele“. Da dieses Wort keine bestimmt festgesetzte Bedeutung hat, so können natürlich die Geister ebenso gut wie wir in der von ihnen gegebenen Definition differieren: der eine sagt vielleicht, Seele sei das Prinzip des Lebens, ein anderer, sie sei der Leben entfachende Funke, der dritte bezeichnet sie als etwas Innerliches, der vierte als etwas Äußerliches usw. und von seinem Standpunkt aus wird ein jeder Recht haben. Man könnte sogar annehmen, dass manche von den Geistern materialistischen Theorien huldigen und doch ist dem nicht so. Ebenso steht es mit der Definition des Begriffes „Gott“; er ist „das Prinzip aller Dinge, der Schöpfer des Universum, höchste Intelligenz, das Unendliche, der große Geist“ u.s.w. und in der Tat ist dies ja alles richtig. Führen wir endlich die Rangordnung der Geister an. Sie bilden eine ununterbrochene Kette von der untersten bis zur höchsten Stufe; eine Klassifizierung ist also ganz willkürlich; man kann sie in drei Klassen aufteilen, ebenso gut aber auch in fünf, zehn, zwanzig, ganz nach Belieben, ohne dass man sich darum eines Irrtums schuldig macht; alle menschlichen Wissenschaften bieten hierzu Analogien; jeder Gelehrte hat sein System; die Systeme wechseln, aber die Wissenschaft bleibt unwandelbar. Man lerne Botanik nach den Systemen Linné’s, Jussieus oder Tourneforts; es ist und bleibt immer Botanik, was man treibt. Hören wir also auf, Dingen, die lediglich auf Übereinkunft beruhen, mehr Wichtigkeit beizumessen, als sie verdienen, und halten wir uns an das wahrhaft Wesentliche: dabei wird Nachdenken in dem, was als Unsinn erscheinen mag, bald eine Analogie uns finden lassen, die uns beim ersten Hinblick entgangen war.