DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Das Vaterunser

2. Vorwort. Die Geister haben empfohlen, das Vaterunser an den Anfang diese Sammlung zu setzen, es soll nicht nur als Gebet verstanden werden, sondern auch als Symbol. Von allen Gebeten stellen sie es an die erste Stelle, zum einen, weil es Jesus selbst uns gegeben hat (Sankt Matthäus, Kap. VI, 9-13) und zum anderen, weil es alle Gebete ersetzen kann, je nach den Gedanken, die man damit verbindet. Es ist das perfekteste Modell in seiner Knappheit und ein wirklich großartiges Meisterwerk der Einfachheit. In einer streng zusammengefassten Form beinhaltet es alle Pflichten des Menschen gegenüber Gott, sich selbst und dem Nächsten. Es umfasst ein Glaubensbekenntnis, die Anbetung und Ergebenheit, die Bitte um die wichtigen Dinge des Lebens und das Prinzip der Nachstenliebe. Dieses Gebet für jemanden zu sprechen bedeutet, für ihn das Gleiche zu erbitten, wie für sich selbst.


Weil es kurz gefasst ist, entgeht den meisten Menschen indessen der tiefere Sinn, der einigen darin enthaltenen Worten zugrundeliegt. Deswegen beten sie es im Allgemeinen, ohne ihre Gedanken auf die Anwendung der einzelnen darin enthaltenen Aussagen zu lenken. Sie sprechen es wie eine Formel, deren Wirkungskraft sich nach der Anzahl der Wiederholungen richtet. In fast allen Fällen ist es eine der kabbalistischen Zahlen, die 3, die 7 oder die 9, die aus dem altertümlichen Aberglauben an die Kraft der Zahlen stammen und die heute noch in magischen Praktiken verwendet werden.


Um die Lücke auszufüllen, die die Kürze dieses Gebetes in unseren Gedanken hinterlässt, wurde jedem Vorschlag eine Erläuterung hinzugefügt, die dessen Sinn und Anwendung klarstellt, dem guten Rat der Geister folgend und mit deren Unterstützung. Je nach Umständen und vorhandener Zeit kann man das Vater Unser einfach oder ausführlich sprechen.


3.Gebet.


I. Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name!


Wir glauben an DICH Herr, weil alles DEINE Macht und DEINE Güte offenbart. Die Harmonie des Universums bezeugt eine Weisheit, eine Klugheit und eine Vorsorge, die alle menschlichen Fähigkeiten übersteigen. In der gesamten Schöpfung, vom Grashalm und vom kleinsten Insekt bis zu den Gestirnen, die sich im Universum bewegen, findet sich der Name eines überwältigend großen und weisen Wesens. Überall stoßen wir auf Beweise DEINER väterlichen Hilfsbereitschaft. Blind ist also der, der DICH in DEINEN Werken nicht erkennt; stolz ist der, der DICH nicht verherrlicht und undankbar ist der, der DIR nicht Dank erweist.


II. Dein Reich komme!


Herr, du hast der Menschheit Gesetze voller Weisheit gegeben, die sie glücklich machen würden, wenn sie diese befolgten. Mit diesen Gesetzen könnten sie Frieden und Gerechtigkeit walten lassen und einander behilflich sein, statt sich gegenseitig zu schaden, wie sie es tun. Der Starke würde den Schwachen unterstützen, statt ihn zu erdrücken. Übel, die aus Missbrauch und Ausschweifungen entstehen, könnten vermieden werden. Das ganze Elend dieser Welt resultiert aus der Verletzung DEINER Gesetze, denn es gibt keine einzige Verletzung dieser Gesetze, die keine fatalen Folgen nach sich zieht.


Den Tieren hast du den Instinkt gegeben, der ihnen die Grenzen für das Notwendige zeigt, und mit dem sie sich auf natürliche Art zufriedengeben. Dem Menschen jedoch hast DU außer dem Instinkt die Intelligenz und die Vernunft gegeben. Du hast ihm auch die Freiheit gegeben, jene DEINER Gesetze, die ihn persönlich betreffen, zu befolgen oder zu übertreten, d.h. die Freiheit zwischen Gut und Böse zu wählen, damit ihm das Verdienst und die Verantwortung seiner Handlungen zukommen.


Niemand kann Unkenntnis DEINER Gesetze vorgeben, weil DU in DEINER väterlichen Fürsorge dafür gesorgt hast, dass sie in das Bewusstsein eines jeden eingeprägt wurden, ohne Unterscheidung, welchem Kult sie folgen oder welcher Rasse sie angehören. Jene, die sie verletzen, verleugnen DICH.


Gemäß DEINEM Versprechen wird der Tag kommen, an dem alle DEINE Gesetze befolgt werden. Die Ungläubigkeit wird dann verschwunden sein. Alle werden DICH als den erhabenen Herrn über alles anerkennen und die Herrschaft DEINER Gesetze wird DEIN Reich auf dieser Erde sein.


O Herr, habe die Güte, sein Kommen zu beschleunigen und gewähre den Menschen die nötige Erleuchtung, die sie auf den Weg der Wahrheit führen wird.


III. Dein Wille geschehe, sowohl im Himmel, wie auf Erden!


Wenn die Fügsamkeit des Sohnes zu seinem Vater, von dem Untergebenen gegenüber dem Vorgesetzen eine Pflicht ist, um wie viel größer muss sie dann vom Geschöpf zu seinem Schöpfer sein! Herr, DEINEN Willen zu befolgen heißt: DEINE Gesetze zu beachten und sich DEINEN göttlichen Bestimmungen ohne Klage zu unterziehen. Der Mensch wird sich DEINEN Gesetzen unterwerfen, wenn er verstehen wird, dass DU die Quelle aller Weisheit bist und dass er ohne DICH nichts ausrichten kann. Er wird dann DEINEN Willen auf der Erde befolgen, wie es die Auserwählten im Himmel tun.


IV. Unser tägliches Brot gib uns heute!


Gib uns die Nahrung, die für den Erhalt der Kräfte unseres Körpers notwendig ist; gib uns aber auch die geistige Nahrung für die Entwicklung unseres Geistes.


Das Tier findet sein Futter, aber der Mensch verdankt seinen Erhalt seiner eigenen Arbeit und den Hilfsmitteln seiner Intelligenz, weil DU ihn frei erschaffen hast.


DU hast zu ihm gesagt: „Im Schweiße deines Angesichts wirst du deine Nahrung aus dem Boden herausholen“. Auf diese Weise hast DU ihm die Arbeit zur Pflicht gemacht, damit er, auf der Suche nach Mitteln zur Befriedigung seiner Bedürfnisse und seines Wohlergehens, seine Intelligenz ausüben kann; einige tun dies durch körperliche, andere durch geistige Arbeit. Ohne Arbeit würde der Mensch nicht vorankommen und könnte nicht die Glückseligkeit eines höheren geistigen Wesens anstreben.



DU hilfst dem gutwilligen Menschen, der sich DIR für das Notwendige anvertraut, nicht aber jenem, der am Müßiggang Gefallen findet und alles ohne Anstrengung zu erhalten wünscht; und auch nicht jenem, der den Überfluss sucht. (Kap. XXV)


Wie viele unterliegen durch ihre eigene Schuld, wegen ihrer Fahrlässigkeit, wegen ihres Leichtsinns, wegen ihres Ehrgeizes und weil sie sich nicht zufrieden geben wollten mit dem, was DU ihnen gegeben hast! Diese sind die Urheber ihres eigenen Unglücks und haben nicht das Recht sich zu beklagen, weil sie damit bestraft werden, wodurch sie gesündigt haben. Aber auch diese verlässt DU nicht, denn DU bist unendlich barmherzig und streckst ihnen immer DEINE hilfreiche Hand entgegen, sobald sie wie der verlorene Sohn ehrlich zu DIR zurückkehren. (Kap. V, Nr.4)


Bevor wir uns über unser Schicksal beklagen, sollten wir uns selbst fragen, ob es nicht unser eigenes Werk ist. Bei jedem Unglück, das uns trifft, sollten wir uns fragen, ob in unseren Händen nicht die Möglichkeit gelegen hätte, dies zu verhindern. Wir sollen uns auch sagen, dass Gott uns die Intelligenz gegeben hat, um uns selber aus diesem Morast herauszuziehen, und dass es von uns abhängt, wie wir sie einsetzen.


Da das Gesetz der Arbeit eine Bedingung des Menschen hier auf Erde ist, gib uns den Mut und die Kraft, dieses Gesetz zu erfüllen; gib uns auch die Klugheit, den Weitblick und die Mäßigung, damit die Früchte unserer Arbeit nicht verloren gehen.


Gib uns also Herr unser tägliches Brot, d.h. die Mittel, mit denen wir durch die Arbeit die lebensnotwendigen Dinge erwerben können, denn niemand hat das Recht, Überfluss zu beanspruchen.


Falls es uns nicht möglich ist zu arbeiten, vertrauen wir auf DEINE göttliche Vorsehung.


Und wenn es in DEINEN Plänen steht, uns trotz unserer Anstrengungen durch die härtesten Entbehrungen zu prüfen, nehmen wir diese als eine gerechte Buße für unsere Fehler an, die wir in diesem oder in einem vorherigen Leben begangen haben, denn DU bist gerecht. Wir wissen, dass es keine unverdienten Leiden gibt und dass DU nie ohne einen Grund bestrafst.


Bewahre uns davor, oh mein Gott! dass wir neidisch werden auf die, die das besitzen, was wir nicht haben, auch nicht auf die, die im Überfluss leben, während uns das Notwendige fehlt. Verzeih ihnen, wenn sie das Gesetz der Wohltätigkeit und der Nächstenliebe vergessen haben, das DU sie gelehrt hast. (Kap. XVI, Nr. 8)


Entferne auch aus unserem Geist den Gedanken, DEINE Gerechtigkeit zu verleugnen, wenn wir den Wohlstand der Bösen bemerken und das Elend, das manchmal über einen guten Menschen hereinbricht. Dank der neuen Erkenntnisse, die DU uns zu Teil werden ließest, wissen wir, dass DEINE Gerechtigkeit immer in Erfüllung geht und niemand ausgeschlossen ist und dass der materielle Wohlstand der Bösen so kurzlebig ist wie ihr körperliches Dasein und dass sie schreckliche Rückschläge erleben werden, während die Freude derer, die mit Ergebenheit leiden, ewig sein wird. (Kap. V, Nr. 7,9,12,18) V. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben.


Vergib uns unsere Sünden, wie auch wir denjenigen vergeben, die gegen uns gesündigt haben!


Herr, alle unsere Übertretungen DEINER Gesetze sind eine Sünde DIR gegenüber, eine Schuld, die wir begangen haben und von der wir uns früher oder später befreien müssen. Im Namen DEINER ewigen Barmherzigkeit bitten wir DICH inständig um DEINE Vergebung unserer Schuld und wir versprechen DIR, dass wir all unsere Kräfte einsetzen werden, um keine neuen Übertretungen mehr zu begehen.


DU hast uns die Nächstenliebe als ausdrückliches Gesetz gegeben, aber dieses Gesetz besteht nicht nur darin, unseren Mitmenschen in ihrer Not beizustehen, es besteht auch im Vergessen und Vergeben der Kränkungen. Mit welchem Recht beanspruchen wir DEINE Milde, wenn wir diese gegenüber den andern, über die wir uns zu beklagen haben, selbst nicht anwenden?


Oh Gott! gib uns die Kraft, alle Rachegefühle in unserer Seele zu ersticken, wie auch allen Hass und Groll. Hilf uns, dass wir nicht vom Tod überrascht werden, solange in unserem Herzen noch Rachsucht herrscht. Falls es DEIN Wille ist, uns heute noch aus dieser Welt zu holen, ermögliche uns bitte, dass wir vor DIR stehen können, frei von aller Feindseligkeit, wie Christus, dessen letzten Gedanken zum Wohl seiner Peiniger waren. (Kap. X)


Die Verfolgungen, die uns die Bösen erdulden lassen, gehören zu unseren irdischen Prüfungen. Wir müssen sie, wie auch alle anderen Prüfungen, ohne Murren akzeptieren, und wir dürfen nicht diejenigen verdammen, die uns mit ihren Bosheiten den Weg zum ewigen Glück bahnen, denn DU hast uns durch den Mund Jesu gesagt: „Selig sind diejenigen, die um der Gerechtigkeit willen leiden“. Segnen wir deshalb die Hand, die uns schlägt und demütigt, denn die Wunden des Körpers stärken unsere Seele und wir werden aus unserer Demut heraus erhöht werden. (Kap. XII, Nr. 4)


Gesegnet sei DEIN Name, Herr, weil DU uns gelehrt hast, dass unser Schicksal nach dem Tod nicht unwiderruflich festgelegt ist, dass wir in anderen Existenzen die Mittel finden werden, um unsere vergangenen Fehler zu sühnen und wiedergutzumachen, in einem neuen Leben in Erfüllung zu bringen, was wir in diesem für unseren Fortschritt nicht machen konnten. (Kap. IV, Nr. 5)


Dadurch werden schließlich alle scheinbaren Regelwidrigkeiten des Lebens erklärt. Es ist das auf unsere Vergangenheit und Zukunft geworfene Licht, das augenfällige Zeichen DEINER souveränen Gerechtigkeit und DEINER unendlichen Güte.



VI. Überlass uns nicht der Verführung, sondern erlöse uns von dem Bösen. *


Gib uns die Kraft, Herr, den Einflüsterungen der bösen Geister zu widerstehen, die uns vom richtigen Weg abzubringen versuchen, indem sie uns böse Gedanken eingeben.


Wir sind aber selbst unvollkommene Geister, die auf dieser Erde inkarniert sind, um zu büßen und uns zu verbessern. Der Ursprung des Bösen ist in uns und die bösen Geister machen nichts anderes, als unsere lasterhaften Neigungen zu nutzen, bei denen sie uns unterstützen, um uns in Versuchung zu bringen.


Jede Unvollkommenheit ist eine offene Tür für ihren Einfluss, während sie gegen die vollkommenen Wesen machtlos sind und deshalb auf jegliche Versuchung verzichten. Alles, was wir unternehmen könnten, um sie zu vertreiben, ist zwecklos, wenn wir ihnen keinen unerschütterlichen Willen für das Gute entgegensetzen und gänzlich auf das Böse verzichten. Wir müssen daher unsere Anstrengungen gegen uns selbst richten, dann werden sich die bösen Geister von selbst entfernen, weil es das Böse ist, das sie anzieht, während das Gute sie zurückweist. (Siehe nachstehend die „Gebete für die Besessenen“)


Herr, stütze uns, wenn wir schwach werden; inspiriere uns durch die Stimme unserer Schutzengel und der guten Geister zu dem Wunsch, unsere Unvollkommenheit zu beseitigen, um den unreinen Geistern den Zugang zu unserer Seele zu versperren. (Siehe nachstehende Nr. 11)


Das Böse ist nicht DEIN Werk, Herr, denn die Quelle des Guten kann nicht das Böse erzeugen. Wir selbst erschaffen es, indem wir DEINE Gesetze übertreten und die Freiheit missbrau chen, die DU uns gegeben hast. Wenn die Menschen DEINE Gesetze befolgen, wird das Böse von der Erde verschwinden, wie es bereits in den fortgeschritteneren Welten verschwunden ist.


Das Böse ist für niemanden eine schicksalhafte Notwendigkeit und es erscheint nur für diejenigen unwiderstehlich, die sich ihm mit Gefallen hingeben. Wenn wir den Wunsch haben, das Böse zu tun, können wir auch den Wunsch haben, das Gute zu tun. Deshalb, oh mein Gott! bitten wir DICH um DEINE Hilfe und ebenfalls die der guten Geister, um der Versuchung widerstehen zu können.


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* Bei einigen Übersetzungen steht: „Und führe uns nicht in Versuchung“. Dieser Ausspruch würde andeuten, dass die Versuchung von Gott kommt; dass ER die Menschen absichtlich zum Bösen führt. Dies ist ein Gedanke, der einer Gotteslästerung gleichkommt, der Gott dem Satan gleichsetzt, dieser Ausspruch kann keinesfalls von Jesus stammen. Er entspricht überdies der allgemeinen Lehre über die Rolle der Dämonen. (Siehe „Der Himmel und die Hölle“, l. Teil, Kap. X, „Die Dämonen“)





VII. So sei es!


Möge es DIR gefallen, Herr, dass unsere Wünsche in Erfüllung gehen. Wir beugen uns aber vor DEINER unendlichen Weisheit. Alle Dinge, die wir nicht verstehen können, mögen nach DEINEM heiligen Willen geschehen und nicht nach unserem, denn DU willst nur unser Bestes, und DU weißt besser als wir, was für uns gut ist.


Wir richten dieses Gebet an DICH, oh Gott! für uns selbst, ebenfalls auch für alle leidenden Seelen, inkarnierte oder nicht inkarnierte, für unsere Freunde und unsere Feinde und für alle, die unseren Beistand benötigen, insbesondere für (Name der Person)


Wir bitten DICH um DEINE Barmherzigkeit und um DEINEN Segen.


Anmerkung:


Man kann hier formulieren, wofür man Gott dankt, und was man für sich selbst oder für andere erbitten möchte. (Siehe nachstehende Gebete Nr. 26 und 27)