DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

Zurück zum Menü
Die Reinkarnation stärkt die Familienbande, während die einmalige Existenz sie bricht.

18. Die Familienbande werden durch die Reinkarnation nicht zerstört, wie manche Leute denken. Im Gegenteil, sie werden verstärkt und enger, während das gegenteilige Prinzip sie zerstört.


Die Geister bilden im All Gruppen oder Familien, die sich durch Zuneigung, Sympathie und ähnliche Neigungen verbunden fühlen. Diese Geister, um glücklich miteinander zu sein, suchen einander. Die Reinkarnation trennt sie nur vorübergehend, denn sobald sie zur Erratizität zurückkehren, treffen sie sich wieder wie Freunde nach der Rückkehr einer Reise. Oftmals sogar folgen sie einander in eine Inkarnation, wo sie sich in einer gleichen Familie oder in einem gleichen Kreis wieder vereinigen und zusammen für ihren gegenseitigen Fortschritt arbeiten. Wenn die einen inkarniert und die anderen es nicht sind, bleiben sie trotzdem durch den Gedanken verbunden. Diejenigen, die frei sind, wachen über die, die in der Gefangenschaft sind; die Fortgeschrittenen helfen den Nachzüglern weiter zu kommen. Nach jeder Existenz haben sie einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Vervollkommnung gemacht. Immer weniger an die Materie gebunden, ist deren Zuneigung intensiver dadurch, dass sie geläutert und weder durch Egoismus noch durch die Beeinträchtigungen der Leidenschaften gestört werden. Sie können also eine unbegrenzte Zahl von körperlichen Existenzen durchlaufen, ohne dass ihre gegenseitige Zuneigung beeinträchtigt wird.


Hier versteht man, dass es sich um die wahre Zuneigung von Seele zu Seele handelt, die einzige, die die Vernichtung des Körpers überlebt, weil die Wesen, die sich in dieser Welt nur durch die Sinne verbinden, keinen Grund haben, sich in der geistigen Welt zu suchen. Es gibt nichts Dauerhafteres als die geistige Zuneigung. Die körperlichen Beziehungen erlöschen mit der Ursache, die sie erzeugt hat; diese Ursache besteht nicht mehr in der Welt der Geister, während die Seele immer existiert. Was die Menschen betrifft, die sich nur aus eigenem Interesse verbinden, sie haben in Wirklichkeit nichts füreinander übrig: der Tod trennt sie sowohl auf Erden wie auch im Himmel.


19. Die Freundschaft und die Zuneigung zwischen Verwandten sind Indizien der vorherigen Sympathie, die sie einander näher gebracht hat. Wenn eine Person, deren Charakter, Geschmack und Neigung keine Ähnlichkeit mit denen seiner Verwandten hat, sagt man, dass sie nicht zur Familie gehört. Indem man das sagt, drückt man eine Wahrheit aus, die tiefer ist als man denkt. Gott erlaubt solche Inkarnationen von unsympathischen und befremdenden Geistern in Familien in zweifacher Hinsicht: sie sollen als Prüfung für die einen sowie als Mittel des Fortschritts für die andern dienen. Die Bösen verbessern sich dann nach und nach durch den Kontakt mit den Guten und durch deren Einfluss, ihr Charakter wird besänftigt, ihre Gewohnheiten werden verbessert und ihre Abneigungen beseitigt. Es kommt zu einer Verschmelzung zwischen den verschiedenartigen Geistern, genau wie auf Erden zwischen Rassen und Völkern.


20. Die Angst vor einer unbegrenzten Zunahme der Verwandtschaft als Folge der Reinkarnation ist eine rein egoistische Angst, die beweist, dass man keine umfassende Liebe empfinden und auf eine große Zahl von Menschen übertragen kann. Hat ein Vater, der mehrere Kinder hat, diese weniger lieb, als wenn er nur ein einziges hätte? Mögen die Egoisten sich beruhigen, denn diese Angst ist unbegründet. Aus der Tatsache heraus, dass ein Mensch zehn Inkarnationen gehabt hat, kann man nicht schließen, dass er in der geistigen Welt zehn Väter, zehn Mütter, zehn Frauen und eine verhältnismäßig große Zahl von Kindern und neuen Verwandten wieder antreffen wird. Er wird immer nur den gleichen wieder begegnen, die er lieb hatte und die mit ihm auf Erden unter verschiedenen Gesinnungen oder vielleicht unter derselben Gesinnung verbunden waren.


21. Betrachten wir jetzt die Konsequenzen der Anti-Reinkarnationslehre. Diese Lehre annulliert zwangsläufig die Vorexistenz der Seele. Da hiernach die Seelen zur gleichen Zeit wie ihre Körper erschaffen werden, existiert kein vorheriges Band zwischen ihnen. Sie sind vollkommen fremd zueinander. Der Vater ist seinem Sohn fremd. Die Abstammung der Familien beschränkt sich also nur auf die körperliche Verbindung, ohne irgendeine spirituelle Bindung. Es gibt also keinen Grund zu prahlen, dass man diese oder jene berühmte Persönlichkeit als Vorfahren gehabt hat. Durch die Reinkarnation aber können Vorfahren und Nachkommen sich schon kennen gelernt, zusammen gelebt, sich geliebt haben und sich später zusammen vereint finden, um ihre sympathischen Beziehungen enger zu knüpfen.


22. Dies betrifft die Vergangenheit! Was die Zukunft angeht, so ist – gemäß eines der Hauptdogmen aus der Anti-Reinkarnationslehre – das Schicksal der Seelen unwiderruflich nach einer einmaligen Existenz festgelegt. Die endgültige Festsetzung des Schicksals impliziert die Beendigung jeglichen Fortschritts, denn wenn es irgendeinen Fortschritt gibt, kann es kein endgültiges Schicksal geben. Je nachdem, ob sie gut oder schlecht gelebt haben, gehen sie sofort zum Ort der Glückseligen oder zur ewigen Hölle; sie sind also sofort für immer getrennt, ohne Hoffnung, dass sie sich jemals wieder näher kommen können; so dass Väter, Mütter und Kinder, Ehemann und Ehefrau, Brüder und Schwestern sowie Freunde nie sicher sein können, sich wiederzusehen. Es ist der absolute Bruch der Familienbande.


Mit der Reinkarnation und dem Fortschritt, der daraus resultiert, treffen sich alle wieder, die sich geliebt haben, sowohl auf Erden wie auch im Universum, um zusammen zu Gott zu streben. Wenn einige auf dem Weg zu Fall kommen, verlangsamen sie ihren Fortschritt und ihr Glück, aber ihre Hoffnung ist nicht vollends verloren; Hilfe erhaltend, ermutigt und unterstützt von denjenigen, die sie lieben, werden sie eines Tages aus dem Sumpf herauskommen, in dem sie versunken sind. Mit der Reinkarnation entwickelt sich eine unaufhörliche Solidarität zwischen den Inkarnierten und den nicht Inkarnierten, woraus sich eine Festigung der Liebe ergibt.


23. Zusammengefasst: Dem Menschen werden vier Alternativen für seine Zukunft jenseits des Grabes aufgezeigt: 1. das Nichts, gemäß der materialistischen Lehre; 2. die Aufnahme in das universelle Ganze, gemäß der pantheistischen Lehre; 3. die Individualität mit der endgültigen Festsetzung ihres Schicksals, gemäß der kirchlichen Lehre; 4. die Individualität mit dem grenzenlosen Fortschritt, gemäß der spiritistischen Lehre.


Entsprechend der beiden ersten Alternativen brechen die Familienbande nach dem Tod auseinander und es gibt keine Hoffnung auf ein Wiedersehen; mit der Dritten gibt es eine Chance, sich wiederzusehen, sofern man sich in der gleichen Umgebung befindet, und diese Umgebung kann sowohl die Hölle wie auch das Paradies sein. Mit der Pluralität der Existenzen, die von der stufenweisen Progression untrennbar ist, gibt es die Gewissheit über die Fortdauer der Beziehungen zwischen jenen, die sich geliebt haben; und das ist es, was die wahre Familie bildet.