DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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KAPITEL IX
Selig sind die Sanftmütigen und die Friedfertigen

• Beleidigungen und Gewalt • Unterweisungen der geistigen Welt: Die Freundlichkeit und die Sanftmut; Die Geduld; Der Gehorsam und die Ergebenheit; Der Zorn.

Beleidigungen und Gewalt

1. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde besitzen. (Matthäus, Kap. V, 5)

2. Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. ( Matthäus, Kap. V, 9)

3. Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt worden ist: „Du sollst nicht töten, und wer auch immer tötet, der verdient, durch das Gericht verurteilt zu werden. Ich aber sage euch, dass, wer auch immer gegen seinen Bruder zornig wird, der verdient durch das Gericht verurteilt zu werden; wer zu seinem Bruder Racca sagt, der verdient von dem obersten Rat verurteilt zu werden; und derjenige, der ihm sagt: Du bist verrückt, der verdient zum Feuer der Hölle verurteilt zu werden. (Matthäus, Kap. V, 21, 22)

4. Durch diese Grundsätze machte Jesus aus der Sanftmut, Milderung, Freundlichkeit und Geduld ein Gesetz; somit verurteilt Er die Gewalt, den Zorn und sogar alle unhöflichen Äußerungen hinsichtlich seiner Mitmenschen. Racca war unter den Hebräern ein Ausdruck der Verachtung, er bedeutete: ein Mann, der zu nichts taugt, und beim Aussprechen spuckte man aus und drehte den Kopf dabei zur Seite. Jesus geht noch weiter, weil Er demjenigen auch mit dem Feuer der Hölle drohte, der zu seinem Bruder sagen würde: „Du bist verrückt“.

Es ist offensichtlich, dass hier, wie in jeder Situation, die Absicht den Fehler verschlimmert oder mildert. Aber, wodurch kann ein einfaches Wort so viel Gewicht haben, um eine so starke Missbilligung zu verdienen? – Weil jedes beleidigende Wort der Ausdruck eines Gefühls und gegensätzlich zum Gesetz der Liebe und der Nächstenliebe ist, ein Gesetz, welches die Beziehungen der Menschen untereinander regelt und die Eintracht und Vereinigung unter ihnen aufrechterhalten soll; – weil es eine Beleidigung des gegenseitigen Wohlwollens und der Brüderlichkeit ist; – weil es den Hass und die Feindseligkeit schürt; und schließlich, – weil – nach der Demut gegenüber Gott – die Nächstenliebe gegenüber den Mitmenschen das oberste Gesetz für jeden Christen ist.

5. Was aber wollte Jesus mit diesen Worten sagen: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde besitzen“? Er empfiehlt den Menschen damit, auf die Güter dieser Welt zu verzichten und verspricht ihnen die des Himmels?

Während er auf die Güter des Himmels wartet, braucht der Mensch jene der Erde, um zu leben; Er empfiehlt ihnen nur, auf diese Letzteren nicht mehr Wert zu legen als auf die Ersten.

Mit diesen Worten wollte Er sagen, dass bis jetzt die irdischen Güter von den Gewalttätigen vereinnahmt wurden zum Nachteil derer, die sanftmütig und friedfertig sind; diesen letzteren fehlt öfter das Notwendigste, während die andern im Überfluss leben. Er verspricht, dass ihnen sowohl auf der Erde als auch im Himmel Gerechtigkeit zuteil wird, weil sie Kinder Gottes genannt werden. Wenn das Gesetz der Liebe und der Nächstenliebe das Gesetz der Menschheit sein wird, wird es keinen Egoismus mehr geben; der Schwache und der Friedfertige werden nicht mehr durch Starke und Gewalttätige ausgebeutet oder unterdrückt werden. So wird der Zustand der Erde sein, wenn sie gemäß dem Gesetz des Fortschritts und dem Versprechen Jesu eine glückliche Welt durch die Vertreibung der Bösen wird.

Unterweisungen der geistigen Welt
Die Freundlichkeit und die Sanftmut

6. Das Wohlwollen gegenüber seinen Mitmenschen, die Frucht der Nächstenliebe, erzeugt Freundlichkeit und Sanftmut, die ihr Ausdruck sind. Jedoch soll man nicht immer dem äußeren Schein trauen. Die Erziehung und die Nutzung der Welt können den Firnis dieser Eigenschaften geben. Wie viele gibt es, deren täuschende Gutmütigkeit nichts anderes ist als eine Maske für das Äußere, als eine Kleidung, deren kalkulierter Schnitt die verheimlichten Missbildungen versteckt. Die Welt ist voller solcher Leute, die das Lächeln auf den Lippen haben und das Gift im Herzen; die sanftmütig sind, sofern sie nichts kränkt, die aber bei der kleinsten Verärgerung beißen; deren Zunge vergoldet ist, wenn sie einem gegenüberstehen, sich jedoch in einen vergifteten Speer verwandelt, wenn sie hinter einem stehen.

Zu dieser Klasse gehören auch jene Menschen, die draußen gutherzig, aber zu Hause Tyrannen sind, die ihre Familie und ihre Untergebenen unter der Last ihres Hochmuts und Despotismus leiden lassen. Sie scheinen sich von dem Zwang entledigen zu wollen, den sie sich anderswo auferlegten. Da sie nicht wagen, ihre Autorität auf Fremde auszuüben, die sie zurechtweisen würden, wollen sie zumindest von denjenigen, die ihnen nicht widerstehen können, gefürchtet werden. Ihre Eitelkeit freut sich, sagen zu können: „Hier befehle ich und hier wird mir gehorcht“; ohne darüber nachzudenken, dass sie hinzufügen könnten: „Und ich werde gehasst“.

Es genügt nicht, dass von den Lippen Milch und Honig tropfen, wenn das Herz daran unbeteiligt ist; dies ist Heuchelei. Derjenige, dessen Freundlichkeit und Sanftmut nicht heuchlerisch sind, widerspricht sich nie. Er ist derselbe vor der Welt und in der Intimität. Er weiß außerdem, dass man den Menschen mit dem äußeren Schein täuschen kann; Gott kann man aber nicht täuschen.

Die Geduld

7. Das Leid ist eine Gnade, die Gott SEINEN Auserwählten schickt; bekümmert euch dann nicht, wenn ihr leidet; preist im Gegenteil Gott, den Allmächtigen, der euch durch das Leid dieser Welt für die Ehre im Himmel gezeichnet hat.

Seid geduldig. Die Geduld ist auch die Nächstenliebe und ihr sollt das Gesetz der Nächstenliebe üben, das euch Jesus, der Gesandte Gottes gelehrt hat. Die Nächstenliebe, die aus den an Arme gegebenen Almosen besteht, ist die einfachste von allen. Es gibt aber eine, die mühsamer ist, und folglich verdienstvoller: Denjenigen zu vergeben, die Gott auf unseren Weg gegeben hat, damit sie Werkzeuge unserer Leiden seien, und um unsere Geduld auf die Probe zu stellen.

Das Leben ist sehr schwer, das weiß ich; es besteht aus tausend Nichts, die wie Stiche von Stecknadeln sind, die schließlich verletzen. Es ist aber notwendig, auf die Pflichten zu achten, die uns auferlegt sind, auf die Tröstungen und die Kompensationen, die wir andererseits erhalten; und wir werden dann sehen, dass der Segen zahlreicher ist, als die Leiden es sind. Die Last scheint weniger schwer, wenn man nach oben schaut, als wenn man die Stirn zum Boden richtet.

Mut, Freunde, Christus ist euer Beispiel; Er litt viel mehr als irgendeiner von euch und hatte sich nichts vorzuwerfen, während ihr eure Vergangenheit sühnen und euch für die Zukunft stärken müsst. Seid geduldig, seid Christen, dieses Wort beinhaltet alles. (Ein geistiger Freund, Le Havre, 1862)

Der Gehorsam und die Ergebenheit

8. Die Lehre Jesus lehrt überall den Gehorsam und die Ergebenheit: Zwei Tugenden, Begleiterinnen der Sanftmut, sehr aktive, auch wenn die Menschen sie zu Unrecht mit der Verneinung des Gefühls und des freien Willens verwechseln. Der Gehorsam ist die Zustimmung der Vernunft und die Ergebenheit ist die Zustimmung des Herzens; beide sind aktive Kräfte, denn sie tragen die Last der Prüfungen, die die unsinnige Revolte zurückfallen lässt. Der Feigling kann nicht ergeben sein, wie auch der Hochmütige und der Egoist nicht gehorsam sein können. Jesus war die Verkörperung dieser Tugenden, die von der materialistischen Antike verachtet wurde. Er ist in einer Zeit gekommen, in der die römische Gesellschaft in der Ohnmacht gegenüber der Korruption zugrunde ging. Er kam, um innerhalb der niedergeschlagenen Menschheit, den Triumph des Opfers und der fleischlichen Entsagung leuchten zu lassen.

Jede Epoche ist so von der Prägung der Tugend und des Lasters gezeichnet, die sie retten oder zugrunde richten soll. Die Tugend eurer Generation ist die intellektuelle Tätigkeit; ihr Laster ist die moralische Gleichgültigkeit. Ich sage nur Tätigkeit, weil das Genie sich plötzlich erhebt und allein die Horizonte entdeckt, die die große Masse erst nach ihm sehen wird; während die Tätigkeit die Vereinigung der Bemühungen aller ist, um ein weniger glänzendes Ziel zu erreichen, das aber die intellektuelle Erhebung einer Epoche beweist. Unterwerft euch dem Anstoß, den wir euren Geistern geben. Gehorcht dem großen Gesetz des Fortschritts, das das Wort eurer Generation ist. Wehe dem faulen Menschen, der seinen Verstand verschließt! Wehe, weil wir, die wir die Führer der Menschen sind, die auf Erden wandern, ihn peitschen und seinen rebellischen Willen durch die doppelte Kraft auf Zügel und Sporn bezwingen werden. Jeder hochmütige Widerstand muss früher oder später nachgeben. Selig aber diejenigen, die sanftmütig sind, denn sie werden der Lehre willig Gehör schenken. (Lazarus, Paris, 1863)

Der Zorn

9. Der Hochmut führt euch dazu, euch für mehr zu halten als ihr seid, keinen Vergleich zu ertragen, der euch erniedrigen könnte; euch, im Gegenteil, dermaßen über eure Mitmenschen hochzuschätzen, sei es geistig oder in der sozialen Position, sei es selbst hinsichtlich der persönlichen Vorteile, sodass euch die kleinste Parallele ärgert und verletzt; und was geschieht dann? Ihr gebt euch dem Zorn hin.

Sucht den Ursprung solcher vorübergehenden Irrsinnsanfälle, die euch Tieren ähnlich machen, die euch die Beherrschung und den Verstand verlieren lassen; sucht, und ihr werdet fast immer den verletzten Hochmut als Ursache dafür finden. Ist es nicht der durch Widerspruch verletzte Hochmut, der euch die berechtigten Bemerkungen zurückweisen lässt, der euch im Zorn die weisesten Ratschläge ablehnen lässt? Sogar die Ungeduld selbst, die von Verärgerungen oft kindlicher Art hervorgerufen wird, hängt von der Wichtigkeit ab, die man seiner eigenen Persönlichkeit beimisst, vor der, so glauben wir, sich alle beugen müssen.

In seiner Raserei greift der zornige Mensch alles an: Die Natur, die leblosen Gegenstände, die er zerschlägt, weil sie ihm nicht gehorchen. Ach! wenn er sich in diesem Moment mit Beherrschung sehen könnte, er würde Angst vor sich selbst haben oder sich lächerlich finden! Dann könnte er beurteilen, was für einen Eindruck er dabei auf die andern macht. Mindestens aus Respekt vor sich selbst sollte er sich bemühen, diese Neigung zu besiegen, die aus ihm ein Objekt des Mitgefühls macht.

Wenn er darüber nachdenken würde, dass der Zorn nichts löst, dass er vielmehr seiner Gesundheit schadet, sogar sein Leben in Gefahr bringt, dann würde er erkennen, dass er selbst dessen erstes Opfer ist. Aber eine andere Überlegung sollte ihn vor allem zurückhalten: der Gedanke, dass er alle unglücklich macht, die ihn umgeben. Falls er ein gutes Herz hat, hätte er dann nicht Gewissensbisse, die Menschen, die er am meisten liebt, leiden zu lassen? Was für eine tödliche Reue, wenn er dann in einem Wutausbruch eine Tat beginge, die er sich sein Leben lang vorwerfen müsste.

Kurzum, der Zorn schließt einige Eigenschaften des Herzens nicht aus, verhindert aber, dass viel Gutes getan wird und kann zur Ausübung von viel Bösem führen: Das soll genügen, um zu Bemühungen anzuregen, den Zorn zu besiegen. Der Spiritist ist darüber hinaus aus einem andern Grund dazu aufgefordert: Der Zorn steht im Widerspruch zur Nächstenliebe und zur christlichen Demut. (Ein Schutzgeist, Bordeaux, 1863)

10. Aufgrund der sehr falschen Meinung, dass man seine eigene Natur nicht ändern kann, hält der Mensch es nicht für nötig sich anzustrengen, um seine Fehler zu verbessern, bei denen er sich wohl fühlt oder die dafür zu viel Beharrlichkeit erfordern würden.

Daher entschuldigt sich zum Beispiel der Mensch, der zum Zorn neigt, fast immer mit seinem Temperament. Anstatt sich für schuldig zu erklären, schiebt er die Schuld auf seinen Organismus, indem er Gott so für seine Missetaten anklagt. Dies ist immer noch eine Folge des Hochmuts, der sich mit allen seinen Unvollkommenheiten vermischt.

Ohne Zweifel gibt es Temperamente, die mehr als andere zu gewaltsamen Taten neigen, wie es flexible Muskeln gibt, die sich besser für kräftige Leistungen eignen. Glaubt aber nicht, dass die ursprüngliche Ursache des Zorns darin liegt. Seid überzeugt, dass ein friedfertiger Geist (ein inkarnierter Mensch), auch wenn er in einem aufbrausenden Körper ist, immer friedfertig sein wird und dass ein gewaltsamer Geist (ein inkarnierter Mensch), auch wenn er in einem trägen Körper ist, nicht sanftmütiger sein wird. In diesem Fall würde die Gewalt nur einen anderen Charakter annehmen. Da der Zorn keinen geeigneten Organismus hat, um seine Äußerungen zu unterstützen, wäre er konzentriert, während er im ersten Fall freundlicher, offener sein wird.

Der Körper vermittelt keinen Zorn demjenigen, der ihn nicht hat, wie auch keine anderen Fehler. Alle Tugenden wie auch alle Fehler wohnen dem Geist inne. Wo sonst wäre andernfalls das Verdienst und die Verantwortung? Der Mensch, der missgebildet ist, kann sich nicht wieder zurechtbiegen, weil der Geist nichts dafür kann, er kann aber verändern, was vom Geist kommt, wenn er einen starken Willen dazu hat. Spiritisten, beweist euch die Erfahrung nicht schon, wie weit die Kraft des Willens gehen kann, wenn sich vor euren Augen die wirklich wunderbaren Verwandlungen ereignen? Sagt euch daher, dass der Mensch nur deshalb lasterhaft bleibt, weil er das so will; aber derjenige, der sich verbessern möchte, das immer tun kann, sonst würde das Gesetz des Fortschritts für den Menschen nicht existieren. (Hahnemann, Paris, 1863)