DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Der Obolus der Witwe

5. Als Jesus dem Opferstock gegenüber saß, beobachtete Er die Art, wie das Volk das Geld hineinwarf, und dass mehrere reiche Leute viel einwarfen. – Er sah auch eine arme Witwe, die kam und zwei kleine Münzen einwarf, im Wert von einem Viertel eines Hellers (frühere Kupfermünze). – Dann rief Jesus Seine Jünger und sagte zu ihnen: „Wahrlich, ich sage euch: diese arme Witwe hat mehr gegeben als alle anderen, die in den Opferstock etwas eingeworfen haben; – denn alle anderen haben von ihrem Überfluss gegeben, diese aber hat von ihrer Armut gegeben, sogar alles, was sie hatte, und alles was ihr für ihren Lebensunterhalt geblieben war.“ (Markus, Kap. XII, 41-44 – Lukas, Kap. XXI, 1-4)


6. Viele Leute bedauern, dass sie nicht so viel tun können, wie sie möchten, mangels ausreichender Geldmittel, und wenn sie sich ein Vermögen wünschen – so sagen sie – ist das, um davon Gutes zu tun. Die Absicht ist zweifellos lobenswert und kann bei einigen sehr aufrichtig sein; aber ist es sicher, dass sie bei allen vollständig uneigennützig ist? Gibt es unter ihnen nicht solche, die – indem sie den Nächsten Gutes tun möchten – lieber bei sich selbst anfangen, um sich selber einige Genüsse mehr zu verschaffen, sich ein bisschen mehr vom Überfluss zu besorgen, der ihnen fehlt, unter dem Vorbehalt, den verbleibenden Rest den Armen zu geben? Dieser Hintergedanke, den sie vor sich selber verbergen, aber den sie tief in ihrem Herzen finden würden, wenn sie danach suchen wollten, annulliert das verdienstvolle dieser Absicht, da die wahre Nächstenliebe zuerst an die anderen denkt, bevor sie an sich selbst denkt. Das Erhabene bei der Nächstenliebe wäre in diesem Fall, in eigener Arbeit durch die Anwendung der eigenen Kräfte, Intelligenz und Fähigkeiten die fehlenden Mittel zu suchen, um diese großzügigen Absichten zu verwirklichen; darin bestünde das dem Herrn angenehmste Opfer. Leider träumt die Mehrheit von einfacheren Mitteln, um auf Anhieb und ohne Anstrengung reich zu werden, indem sie hinter Trugbildern herläuft, wie der Entdeckung von Schätzen, einer zufallsbedingten günstigen Gelegenheit, wie den Empfang unerwarteter Erbschaften usw. Was soll man jenen sagen, die hoffen, Helfer unter den Geistwesen zu finden, die sie bei dieser Suche unterstützen? Es ist offensichtlich, dass sie den edlen Zweck des Spiritismus weder kennen noch verstehen, und noch weniger den Auftrag der Geistwesen, denen es Gott erlaubt, mit den Menschen zu kommunizieren; und gerade daher werden sie durch Enttäuschungen bestraft. („Das Buch der Medien“, zweiter Teil, Nr. 294 und 295)


Diejenigen, deren Absicht ohne irgendein persönliches Interesse ist, sollten sich über ihre Unfähigkeit, soviel Gutes zu tun, wie sie möchten, mit dem Gedanken hinwegtrösten, dass der Obolus des Armen, der gibt, indem er sich Entbehrungen auferlegt, in der Waagschale Gottes mehr wiegt als das Geld des Reichen, der gibt, ohne auf etwas verzichten zu müssen. Es wäre zweifellos eine große Freude, großzügig den Armen helfen zu können; aber wenn dies unmöglich ist, muss man sich damit abfinden und sich darauf beschränken, was man machen kann. Übrigens, kann man Tränen nur mit Gold trocknen? Sollen wir untätig bleiben, nur weil wir keins besitzen? Derjenige, der aufrichtig seinen Nächsten helfen will, findet tausend Möglichkeiten dazu; wenn er sie sucht, wird er sie finden; falls es nicht auf die eine Art und Weise ist, ist es auf eine andere, da es niemanden gibt - im vollen Besitz seiner Fähigkeiten – der nicht irgendeinen Dienst erweisen, einen Trost spenden, ein physisches oder moralisches Leiden mindern, eine nützliche Maßnahme vornehmen könnte. Auch ohne Geld kann man helfen, hat nicht ein jeder seine Kraft, seine Zeit, seine Arbeitspause, wovon er etwas abgeben kann? Auch darin besteht der Obolus des Armen, die Spende der Witwe.