DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Böses mit Gutem vergelten

1. Ihr habt gelernt, was gesagt worden ist: „Ihr sollt euren Nächsten lieben und eure Feinde hassen.“ Ich aber sage euch: „Liebt eure Feinde; tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen und verleumden, damit ihr Söhne eures Vaters seid, der im Himmel ist! Denn ER lässt die Sonne aufgehen über den Bösen und den Guten, und lässt es regnen über den Gerechten und Ungerechten. Denn, wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welche Belohnung werdet ihr bekommen? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr nur eure Brüder und Schwestern grüßt, was tut ihr damit mehr als die anderen? Tun nicht auch die Heiden dasselbe?“


Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. (Matthäus, Kap. V, 20 und 43-47)


2. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Verdienst hättet ihr dadurch, da ja auch die Sünder jene lieben, die sie lieben? – Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Verdienst hättet ihr dadurch, da ja auch die Sünder dasselbe tun? - Und wenn ihr nur denen leiht, von denen ihr das Gleiche zurückzuerhalten hofft, welchen Verdienst hättet ihr dadurch, da ja auch die Sünder sich untereinander leihen, um den gleichen Vorteil zu erhalten? – Aber ihr, liebt eure Feinde, tut allen Gutes und leiht, ohne etwas zurückzuerwarten. Dann wird eure Belohnung sehr groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn ER ist gütig gegenüber den Undankbaren und sogar den Bösen. – Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. (Lukas, Kap. VI, 32-36)


3. Wenn die Liebe zu den Nächsten der Grundsatz der Nächstenliebe ist, so ist die Feinde zu lieben, seine erhabene Anwendung, denn diese Tugend ist einer der größten Siege, die über den Egoismus und den Hochmut errungen werden können.


Im Allgemeinen wird der Sinn des Wortes „Liebe“ in diesem Zusammenhang missverstanden. Jesus meint mit diesen Worten durchaus nicht, dass man seinem Feind gegenüber gleich zärtlich sein soll, wie zu seinem Bruder, seiner Schwester oder zu einem Freund. Die Zärtlichkeit setzt Vertrauen voraus. Man kann demjenigen kein Vertrauen schenken, von dem man weiß, dass er uns Böses wünscht. Ebenso wenig ist es möglich, ihm gegenüber Freundschaft zu hegen, weil man weiß, dass er fähig ist, diese zu missbrauchen. Unter Menschen, die sich gegenseitig misstrauen, kann es keinen Impuls der Zuneigung geben, so wie es unter denjenigen möglich ist, die in der gleichen Art und Weise denken. Und wenn man einem Feind begegnet, empfindet man schließlich nicht die Freude, wie bei der Begegnung mit einem Freund.


Diese beiden Gefühle ergeben sich aus einem physikalischen Gesetz: das des Ausgleichs und das der Abstoßung. Der böse Gedanke strömt ein Fluidum aus, dessen Eindruck schmerzlich ist; der wohlwollende Gedanke umhüllt euch mit einer angenehmen Ausstrahlung. Daher der Unterschied der Empfindungen, die man bei der Annäherung eines Freundes oder eines Feindes spürt. Die Feinde zu lieben bedeutet also nicht, dass man keinen Unterschied zwischen ihnen und den Freunden machen soll. Dieses Gebot scheint für uns nur deshalb so schwer, ja sogar unmöglich anwendbar zu sein, weil wir irrtümlicherweise glauben, dass uns damit vorgeschrieben wird, den Feinden einen gleichrangigen Platz in unserem Herzen zu geben. Wenn die Armut der menschlichen Sprache dazu zwingt, dasselbe Wort zu verwenden, um verschiedene unterschiedliche Abstufungen der Gefühle auszudrücken, soll die Vernunft je nach dem Fall eine Unterscheidung herbeiführen.


Die Feinde zu lieben, bedeutet:


– also nicht, für sie eine Zuneigung zu haben, die nicht natürlich ist, denn der Kontakt mit einem Feind verursacht eine ganz andere Art des Herzklopfens, als der mit einem Freund;


– weder Hass noch Groll noch Verlangen nach Rache gegen sie zu haben;


– ihnen, ohne Hintergedanken und bedingungslos das Böse zu vergeben, das sie uns angetan haben;


– der Versöhnung kein Hindernis entgegenzusetzen;


– ihnen das Gute zu wünschen, anstelle des Bösen;


– sich über das Gute zu freuen, das ihnen geschieht, anstatt sich darüber zu ärgern;


– ihnen im Notfall eine helfende Hand zu reichen;


– sich durch Worte und Taten von allem zu enthalten, was ihnen schaden könnte.


– schließlich, ihnen bei allem das Böse mit dem Guten zu vergelten, ohne die Absicht sie zu erniedrigen. Jeder, der dies macht, erfüllt die Bedingungen des Gebots: Liebt eure Feinde.


4. Die Feinde zu lieben, ist für die Ungläubigen ein Unsinn. Derjenige, für den das gegenwärtige Leben alles ist, sieht in seinem Feind ein schädliches Wesen, das seine Ruhe stört und von ihm, denkt er, kann ihn nur der Tod befreien. Daher kommt dieses Verlangen nach Rache. Er hat kein Interesse zu vergeben, wenn es sich nicht darum handelt, seinen Stolz vor der Welt zu befriedigen. Vergeben wäre in manchen Fällen sogar eine für ihn unwürdige Schwäche. Und wenn er sich nicht rächt, bewahrt er trotzdem den Groll und den heimlichen Wunsch, seinem Feind Böses anzutun.


Der Gläubige und vor allem der Spiritist hat eine andere Sichtweise, da er seinen Blick auf die Vergangenheit und die Zukunft richtet, und weil dazwischen das gegenwärtige Leben nicht mehr als ein Punkt ist. Er weiß, dass man hier wegen der für die Erde vorgesehenen Bestimmung damit rechnen muss, boshafte und perverse Menschen zu treffen; dass die auf ihn treffenden Bosheiten zu den Prüfungen gehören, die er zu erdulden hat, und von dem gehobenen Standpunkt, von dem aus er dies erlebt, erscheinen ihm die Schicksalsschläge weniger bitter, egal ob sie von Menschen oder von Dingen ausgehen. Und wenn er sich nicht gegen die Prüfungen auflehnt, so soll er auch nicht mit denjenigen hadern, die dazu als Instrument dienen. Wenn er, anstatt sich zu beklagen, Gott für die Prüfung dankt, dann soll er sich auch bei der Hand bedanken, die ihm die Möglichkeit gibt, seine Geduld und Ergebenheit zu zeigen. Dieser Gedanke lässt ihn auf natürliche Weise vergeben. Er weiß darüber hinaus, dass er sich in seinen eigenen Augen umso mehr erhebt, je großzügiger er ist, und begibt sich so außerhalb der Reichweite der bösartigen Pfeile seiner Feinde.


Der Mensch, der auf dieser Welt eine erhöhte Position besitzt, fühlt sich nicht getroffen von den Beleidigungen derer, die er als seine Untergeordneten ansieht. So geschieht es auch mit demjenigen, der sich in der moralischen Welt über die materialistische Menschheit stellt. Er versteht, dass Hass und Groll ihn herabwürdigen und erniedrigen würden. Um seinem Gegner überlegen zu sein ist es also nötig, eine größere, edlere und großmütigere Seele zu haben.