DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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KAPITEL XXV
Suchet und ihr werdet finden

• Hilf dir selbst, dann wird der Himmel dir helfen • Betrachtet die Vögel des Himmels • Überfordert euch nicht, um Gold zu besitzen

Hilf dir selbst, dann wird der Himmel dir helfen

1. Bittet, und es wird euch gegeben; sucht, und ihr werdet finden; klopft an, und man wird euch öffnen; denn jeder, der bittet, empfängt, und wer sucht, der findet; und der anklopft, dem wird geöffnet.

Was wäre ein Mensch unter euch, der dem Sohn einen Stein gäbe, wenn dieser ihn um Brot bittet? Oder ihm eine Schlange gäbe, wenn dieser um einen Fisch bittet? Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, euren Kindern gute Sachen zu geben wisst, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die IHN darum bitten? (Matthäus, Kap. VII, 7-11)

2. Von dem irdischen Gesichtspunkt aus ist der Grundsatz: Sucht, und ihr werdet finden, diesem anderen ähnlich: Hilf dir selbst, dann wird der Himmel dir helfen. Es ist der Grundsatz des Gesetzes der Arbeit, infolgedessen das Gesetz des Fortschritts, denn der Fortschritt ist der Sohn der Arbeit, da die Arbeit die Kräfte der Intelligenz in Bewegung bringt.

In den Anfängen der Menschheit setzte der Mensch seine Intelligenz einzig und allein zur Nahrungssuche, für Mittel zum Schutz vor ungünstigen Witterungseinflüssen und zur Verteidigung gegen seine Feinde ein. Aber Gott hat ihm mehr gegeben als dem Tier: nämlich den unablässigen Wunsch nach Besserem; und es ist dieser Wunsch, der ihn dazu treibt, Mittel zur Verbesserung seiner Position zu suchen, was zu Entdeckungen, zu Erfindungen und zur Weiterentwicklung der Wissenschaft führt, denn diese verschafft ihm, was ihm fehlt. Durch seine Forschungen steigert sich seine Intelligenz und seine Moral läutert sich. Auf die Bedürfnisse des Körpers folgen die Bedürfnisse des Geistes; nach der materiellen Nahrung braucht er die geistige Nahrung. Auf diese Weise verändert er sich vom primitiven zum zivilisierten Menschen.

Aber der Fortschritt, den jeder Mensch während eines Lebens individuell erreicht, ist sehr gering, bei vielen sogar kaum feststellbar. Wie könnte dann die Menschheit ohne die Vorexistenz und die Weiterexistenz der Seele fortschreiten? Wenn die Seelen, die jeden Tag die Erde verlassen, nie wieder zurückzukehren würden, so müsste die Menschheit sich unaufhörlich mit primitiven Elementen erneuern, die alles neu schaffen und erlernen müssten. Es gäbe also keinen Grund dafür, dass der Mensch heute weiter entwickelt sein sollte, als in den Anfängen der Welt, da ja bei jeder Geburt die ganze intellektuelle Arbeit wieder von vorne beginnen müsste. Die Seele jedoch, die im Gegensatz dazu mit ihrem erreichten Fortschritt zurückkommt und jedes Mal irgendetwas mehr erlangt, geht allmählich von der Barbarei in die materielle Zivilisation, und von dieser in die moralische Zivilisation über. (Siehe Kap. IV, Nr. 17).

3. Wenn Gott den Menschen von der körperlichen Arbeit befreit hätte, würden seine Glieder verkümmern, wenn ER ihn von der intellektuellen Arbeit befreit hätte, würde sein Geist im Kindesalter bleiben, im triebhaften Zustand des Tieres. Deshalb hat Gott aus der Arbeit eine Notwendigkeit für ihn gemacht und sagte deshalb zu ihm: „Suche, und du wirst finden; arbeite, und du wirst etwas hervorbringen, und auf diese Art wirst du das Kind deines eigenen sein, du wirst das Verdienst haben, und du wirst belohnt werden gemäß dem, was du geschaffen hast.

4. Auf Grund der Anwendung dieses Prinzips kommen die Geister nicht, um dem Menschen seine Forschungsarbeit zu ersparen, indem sie ihm vollständige Entdeckungen und Erfindungen liefern, schon reif für die Produktion, so dass man nur noch nehmen muss, was einem in die Hand gegeben wurde, ohne die Mühe, sich bücken zu müssen, um dieses aufzuheben, und sogar ohne die Mühe des Denkens. Wenn es so wäre, könnte der größte Faulenzer sich bereichern und der Ungebildete auf die billigste Art ein Weiser werden, und beide könnten sich das Verdienst für etwas zuschreiben, was sie nicht gemacht haben. Nein, die Geister kommen nicht, um den Menschen von dem Gesetz der Arbeit zu befreien. Sie kommen, um ihm das Ziel zu zeigen, das er erreichen soll, und den Weg, der zum Ziel führt, indem sie ihm sagen: „Geh, und du wirst ankommen“. Du wirst Steine auf deinem Weg finden, schau sie dir an und entferne sie selber. Wir werden dir die nötige Kraft dazu geben, wenn du sie dafür gebrauchen möchtest.“

5. In moralischer Hinsicht bedeuten diese Worte Jesu: „Bittet um das Licht, das euren Weg erleuchten soll, und es wird euch gegeben. Bittet um Kraft, um dem Bösen gegenüber Widerstand zu leisten, und ihr werdet sie bekommen. Bittet um die Unterstützung der guten Geister, und sie werden kommen, um euch zu begleiten, und sie werden euch führen wie der Engel von Tobias. Bittet um gute Ratschläge, und sie werden euch niemals verweigert. Klopft an unsere Tür, und sie wird euch geöffnet. Bittet aber aufrichtig mit Glauben, Vertrauen und Inbrunst. Werdet mit Demut vorstellig und nicht mit Arroganz, denn ohne sie wärt ihr euren eigenen Kräften überlassen, und der Sturz, den ihr dann erleben würdet, wäre die Strafe für euren Hochmut.

Das ist die Bedeutung der Worte: „Sucht, und ihr werdet finden; klopft an, und man wird euch öffnen“.

Betrachtet die Vögel des Himmels

6. „Sammelt keine Schätze auf Erden, wo Motten und Rost sie fressen und wo Diebe sie ausgraben und stehlen. Sammelt vielmehr Schätze im Himmel, wo weder Motten noch Rost sie fressen; denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein.“ Deshalb sage ich euch: „Macht euch keine Sorgen darüber, wo ihr etwas zum Essen finden werdet für die Erhaltung eures Leben, und auch nicht, wo ihr Kleidung finden könntet, um euren Körper zu bedecken. Ist nicht das Leben mehr als die Speise und der Körper mehr als die Kleidung?

Betrachtet die Vögel des Himmels: Sie säen nicht und ernten nicht und häufen nichts in Scheunen an, und euer Vater im Himmel ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr als sie? – Und wer von euch ist imstande, mit all seinen Bemühungen, seine Größe um eine Elle zu verlängern?

Weshalb sorgt ihr euch daher um die Kleidung? Seht, wie die Lilien des Feldes wachsen, sie arbeiten nicht und sie spinnen nicht; und ich sage euch, dass selbst Salomo in seiner vollen Pracht nicht gekleidet war, wie eine von diesen. Wenn aber Gott das Gras des Feldes so gestaltet, das es heute steht und morgen verbrannt wird, wird er dann nicht ebenso viel tun, um euch zu kleiden, ihr Kleingläubigen!

Darum sollt ihr euch nicht sorgen und sagen: ‚Was werden wir essen?‘ Oder: ‚was werden wir trinken?‘ Oder: ‚womit werden wir uns kleiden?‘ So wie die Heiden, die nach allen diesen Dingen trachten. Euer himmlischer Vater weiß ja, dass ihr all dieser Dinge bedürft.

Sucht vielmehr zuerst das Reich Gottes und SEINE Gerechtigkeit, dann werden euch alle diese Dinge dazugegeben werden. Sorgt euch daher nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird seine eigenen Sorgen haben. Jeder Tag hat genug mit seinen eigenen Sorgen.“ (Matthäus, Kap. VI, 19-21 und 25-34)

7. Wenn wir diese Worte wortwörtlich nehmen würden, würden sie die Verneinung aller Vorsorge und aller Arbeit und folglich allen Fortschritts bedeuten. Gemäß diesem Prinzip würde der Mensch sich auf eine abwartende Passivität reduzieren. Seine physischen und intellektuellen Kräfte würden ungenutzt bleiben. Wenn dies sein normaler Zustand auf Erden gewesen wäre, hätte er nie aus diesem primitiven Zustand herausfinden können, und wenn er sein heutiges Gesetz danach gestaltet hätte, brauchte er nur noch zu leben, ohne etwas zu tun. Das aber kann nicht der Gedanke Jesu gewesen sein, denn das wäre ein Widerspruch zu allem, was Er anderswo gesagt hat, wie auch hinsichtlich der Naturgesetze. Gott schuf den Mensch ohne Kleidung und ohne Haus, gab ihm aber die Intelligenz, sich dies zu schaffen. (Siehe Kap. XIV, Nr. 6, und Kap. XXV, Nr. 2).

Man muss daher in diesen Worten nichts anderes als eine symbolische poetische Allegorie der Vorsehung sehen, die niemals diejenigen im Stich lässt, die ihr vertrauen, die aber möchte, dass sich die Menschen ihrerseits etwas erarbeiten. Wenn sie auch nicht immer mit materieller Unterstützung zu Hilfe kommt, inspiriert sie die Ideen, mit denen man die Wege findet, von alleine aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen. (Siehe Kap. XXVII, Abs. 8).

Gott kennt unsere Bedürfnisse, und ER sorgt für sie vor, je nachdem wie nötig sie sind. Der Mensch aber, der unersättlich in seinen Wünschen ist, gibt sich nie zufrieden mit dem, was er hat. Das Notwendige genügt ihm nicht, er braucht auch das Überflüssige. Die Vorsehung überlässt ihn dann sich selber. Oft wird er durch seine eigene Schuld unglücklich, und weil er die warnende Stimme seines Gewissens missachtet hat, lässt Gott ihn unter den Konsequenzen leiden, damit ihm dies eine Lehre für die Zukunft sei.

8. Die Erde wird genügend hervorbringen, um alle ihre Bewohner zu ernähren, wenn die Menschen alles, was sie produzieren, gemäß der Gesetze der Gerechtigkeit, der Uneigennützigkeit und der Nächstenliebe richtig zu verwalten verstehen. Wenn die Brüderlichkeit unter den verschiedenen Völkern herrschen wird, ebenso wie unter den Ländern eines gleichen Reiches, wird der augenblickliche Überfluss des einen, den momentanen Mangel des anderen ausgleichen, und jeder wird das Notwendige haben. Der Reiche wird sich für einen halten, der eine große Menge von Samen hat; wenn er diesen aussät, so wird er das Hundertfache für ihn und für die anderen hervorbringen. Wenn er ihn aber alleine isst, ihn verschwendet und den Überschus verderben lässt, so kann er nichts hervorbringen und es wird nicht genug für alle da sein. Und wenn er den Samen in seinem Speicher wegschließt, werden die Würmer ihn auffressen; deshalb sagte Jesus: „Sammelt keine Schätze auf Erden, denn sie sind vergänglich, sammelt Schätze im Himmel, wo sie ewig sind.“ Mit anderen Worten, legt nicht mehr Wert auf die materiellen Güter als auf die geistigen, und lernt die Ersteren zu Gunsten der Zweiten zu opfern. (Siehe Kap. XVI, Nr. 7 und folgende)

Man kann nicht Nächstenliebe und Brüderlichkeit durch Gesetze verordnen. Wenn sie nicht im Herzen sind, wird der Egoismus sie stets ersticken. Die Nächstenliebe und die Brüderlichkeit in das Herz des Menschen einzupflanzen, ist die Aufgabe des Spiritismus.

Überfordert euch nicht, um Gold zu besitzen

9. „Überfordert euch nicht, um Gold, Silber oder Geldmünzen in eure Geldbörse zu bekommen. Bereitet keinen Reisesack für den Weg vor, auch keine zwei Kleider, keine Schuhe und keinen Stab, denn derjenige, der arbeitet, verdient, dass man ihn ernährt.

10. Wenn ihr in eine Stadt oder in ein Dorf kommt, prüft nach, wer würdig ist, euch unterzubringen und bleibt dann bei ihm, bis ihr weiterzieht. Beim Eintritt in sein Haus sprecht den Gruß: „Friede sei in diesem Haus“. Wenn das Haus dafür würdig ist, wird euer Frieden über sie kommen; ist es aber nicht würdig, so soll euer Frieden zu euch zurückkehren.

Und wenn man euch weder aufnimmt noch eure Worte anhört, so geht fort von jenem Haus oder aus jener Stadt und schüttelt den Staub von euren Füssen. Wahrlich, ich sage euch: am Tage des Gerichts wird es Sodom und Gomorra erträglicher ergehen als dieser Stadt.“ (Matthäus, Kap. X, 9-15)

11. Diese Worte, die Jesus an Seine Jünger richtete, als Er sie zum ersten Mal aussandte, um die neue Botschaft zu verkünden, waren nicht ungewöhnlich für jene Zeit. Sie entsprachen den patriarchalischen Gewohnheiten des Orients, wo der Reisende stets eine Bleibe in einem Zelt fand. Aber damals waren die Reisenden sehr selten. Bei den modernen Völkern hat der zunehmende Verkehr neue Sitten erzeugt. Diese alten Bräuche findet man nur noch in entlegenen Gegenden, in denen keine großen Veränderungen stattgefunden haben. Würde Jesus heute zurückkommen, könnte Er zu Seinen Jüngern nicht mehr sagen: „Macht euch ohne Vorräte auf den Weg“.

Neben dem eigentlichen Sinn, haben diese Worte noch eine tiefere moralische Bedeutung. Indem Jesus diese Worte aussprach, lehrte Er Seine Jünger der Vorsehung zu vertrauen. Außerdem konnten sie nicht den Neid der anderen, die sie empfingen, erwecken, da sie nichts besaßen. Es diente ebenfalls dazu, die Selbstsüchtigen von den Mildtätigen zu unterscheiden. Daher sagte Er ihnen auch: „Versucht zu erfahren, wer würdig ist, euch zu beherbergen“. Das heißt: wer menschlich genug ist, einen Reisenden, der nichts zahlen kann, bei sich aufzunehmen, der ist auch würdig, eure Worte zu hören; ihr werdet sie an ihrer Nächstenliebe erkennen.

Hinsichtlich jener, die sie weder aufnehmen noch anhören wollten, empfahl da Jesus Seinen Jüngern, diese Menschen zu verfluchen, sich ihnen aufzudrängen oder die Anwendung von Gewalt und Zwang, um sie zu bekehren? Nein! Er bat sie, einfach wegzugehen und Menschen guten Willens zu suchen.

So sagt heute der Spiritismus zu seinen Anhängern: Verletzt kein Gewissen, zwingt niemanden, seinen Glauben zu verlassen, um zu eurem überzutreten, verflucht keinen, der eure Meinung nicht teilt, nehmt jene bei euch auf, die zu euch kommen und lasst jene in Ruhe, die euch ablehnen. Erinnert euch der Worte Christi; damals eroberte man den Himmel durch Gewalt, heute wird er durch Güte gewonnen. (Kap. IV, Nr. 10 und 11)