DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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15. Unglücklicherweise konnten sich die Anhänger der neuen Lehre nicht über die Interpretation der Worte des Meisters einigen, die meistens unter Allegorien und Sinnbildern verborgen waren. Daher sind daraus von Anfang an zahlreiche Sekten entstanden, die alle vorgaben, im Besitz der ausschließlichen Wahrheit zu sein; und achtzehn Jahrhunderte genügten nicht, um sie zu einigen. Diese Sekten, indem sie das Wichtigste der göttlichen Gebote vergaßen: Die Liebe, die Brüderlichkeit und die Nächstenliebe, die Jesus als Eckstein seines und als ausdrückliche Bedingung zur Rettung bezeichnet hatte, verfluchten sich gegenseitig und die einen fielen über die anderen her. Die Stärkeren erdrückten die Schwächeren, erstickten sie im Blut, mit der Folterung und in den Flammen der Scheiterhaufen. Die Christen, Sieger über das Heidentum, wurden von Verfolgten zu Verfolgern. Mit Eisen und Feuer stellten sie das Kreuz des unbefleckten Lammes in den zwei Welten auf. Es ist eine bewiesene Tatsache, dass die religiösen Kriege die grausamsten waren und mehr Opfer gefordert haben, als die politischen Kriege, und dass in keinem anderen so viele Taten der Grausamkeit und der Barbarei begangen wurden.


Liegt die Schuld daran in der Lehre Jesu? Gewiss nicht, denn sie verurteilt deutlich alle Gewalt. Hat Jesus irgendwann zu Seinen Jüngern gesagt: „Geht, tötet, massakriert, verbrennt diejenigen, die nicht das glauben, was ihr glaubt“? Nein, im Gegenteil, denn Er sagte zu ihnen: „Alle Menschen sind Geschwister und Gott ist überaus barmherzig; liebt euren Nächsten, liebt eure Feinde, tut Gutes denjenigen, die euch verfolgen“. Er sagte ihnen weiterhin: „Wer mit dem Schwert tötet, wird durch das Schwert umkommen“. Die Verantwortung dafür liegt keinesfalls in der Lehre Jesus, sondern bei denjenigen, die sie falsch interpretiert haben und aus ihr ein Instrument zur Befriedigung ihrer Leidenschaft gemacht haben; bei denjenigen, die diese Worte Jesu verkannt haben: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“.


Jesus, in Seiner tiefen Weisheit, sah im Voraus was geschehen würde; aber diese Dinge waren unvermeidbar, weil sie der Niedrigkeit der menschlichen Natur angehörten, die sich nicht so plötzlich verändern konnte. Es war nötig, dass das Christentum diese lange und grausame Prüfung von achtzehn Jahrhunderten * durchlief, um seine Stärke zu zeigen; denn trotz allem Bösen, das in seinem Namen begangen wurde, ist das Christentum daraus rein hervorgegangen. Das Christentum wurde nie in Frage gestellt.


Der Tadel fiel immer auf diejenigen zurück, die es missbraucht haben. Bei jeder Handlung der Intoleranz sagte man immer: „Wenn das Christentum besser verstanden und praktiziert würde, so würde dies nicht geschehen“.




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* Anmerkung der Übersetzerin: Aus heutiger Sicht sind es 21 Jahrhunderte.