DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Aktuelle Ursachen der Leiden

4. Es gibt zweierlei Arten von Schicksalsschlägen des Lebens, oder – wenn man es so sehen möchte – sie rühren aus zwei unterschiedlichen Quellen her, die zu unterscheiden wichtig sind. Die einen haben ihre Ursache im gegenwärtigen Leben, die anderen außerhalb dieses Lebens.


Indem man auf die Ursache der irdischen Leiden zurückgeht, wird man erkennen, dass viele eine natürliche Folge des Charakters und des Verhaltens derjenigen sind, die sie erdulden.


Wie viele Menschen fallen aufgrund ihrer eigenen Fehler! Wie viele sind Opfer ihrer Sorglosigkeit, ihres Hochmuts und ihres Ehrgeizes!


Wie viele Leute ruinieren sich aus Mangel an Ordnung und Beharrlichkeit, wegen des schlechten Benehmens und weil sie ihre Begierden nicht einschränken konnten!


Wie viele unglückliche Verbindungen gibt es, weil sie aus einem berechnenden Interesse oder aus Eitelkeit eingegangen wurden, wobei das Herz nicht mit einbezogen wurde!


Wie viele Streitigkeiten und verhängnisvolle Auseinandersetzungen hätte man mit mehr Mäßigung und weniger Empfindlichkeit vermeiden können!


Wie viele Krankheiten und Gebrechen sind die Folge von Unmäßigkeit und Übertreibungen aller Art!


Wie viele Eltern sind mit ihren Kindern unglücklich, weil sie deren schlechte Neigungen nicht von Anfang an bekämpft haben! Aus Schwäche oder Gleichgültigkeit haben sie in ihnen die Keime des Hochmutes, des Egoismus und der törichten Eitelkeit, die das Herz abstumpfen, sich entwickeln lassen. Später, wenn sie ernten, was sie gesät haben, wundern sie sich und regen sich über deren Respektlosigkeit und Undankbarkeit auf.


Alle diejenigen, die im Herzen durch die Schicksalsschläge des Lebens und Enttäuschungen betroffen sind, sollten ganz ernsthaft ihr Gewissen befragen; und indem sie nach und nach bis zur Quelle ihrer Leiden zurück gehen, mit denen sie geschlagen sind, werden sie erkennen, ob sie in den meisten Fällen nicht sagen müssen: „Wenn ich dies und jenes gemacht bzw. nicht gemacht hätte, wäre ich nicht in einer solchen Situation“.


Wem soll man die Schuld für all diesen Kummer geben, wenn nicht sich selbst? Der Mensch ist daher in vielen Fällen der Urheber seines eigenen Unglückes. Aber anstatt dies anzuerkennen, hält er es für einfacher und weniger demütigend für seine Eitelkeit, das Schicksal, die Vorsehung, die fehlenden Chancen und seinen schlechten Stern anzuklagen, während in Wirklichkeit sein schlechter Stern nur seine Nachlässigkeit ist.


Leiden dieser Art haben sicherlich einen bedeutenden Anteil an den Schicksalsschlägen des Lebens. Der Mensch wird sie vermeiden, wenn er an seiner moralischen und intellektuellen Verbesserung arbeitet.


5. Das menschliche Gesetz erfasst bestimmte Verstöße und bestraft sie. Der Verurteilte kann also erkennen, dass er die Konsequenzen für das, was er gemacht hat, zu spüren bekommt. Aber das Gesetz erfasst nicht alle Verstöße und kann sie auch nicht erfassen. Das Gesetz trifft insbesondere die Verstöße, die der Gesellschaft Schaden zufügen und nicht die, die nur denjenigen schaden, die sie begehen. Gott aber will den Fortschritt all SEINER Geschöpfe, und folglich lässt ER keine Abweichung vom geraden Weg unbestraft. Es gibt keinen Verstoß, egal wie klein er ist, und keine Übertretung seines Gesetzes, die keine, mehr oder weniger schwerwiegenden und unvermeidlichen Konsequenzen haben. Daraus folgt, dass der Mensch in den kleinen wie in den großen Sachen immer da bestraft wird, wo er gesündigt hat. Die daraus folgenden Leiden sind eine Warnung, dass er Fehler begangen hat. Sie geben ihm Erfahrung und lassen ihn den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen erkennen, sowie die Notwendigkeit sich zu verbessern, um in der Zukunft zu vermeiden, was für ihn eine Leidensquelle war. Ohne das hätte er keinen Grund, sich zu verbessern; an die Straflosigkeit glaubend, würde er seinen Fortschritt und folglich auch sein zukünftiges Glück verzögern.


Aber die Erfahrung kommt manchmal etwas spät: wenn das Leben bereits vergeudet und getrübt ist; die Kräfte schon verbraucht sind und wenn das Übel nicht wiedergutzumachen ist, dann fängt der Mensch an zu sagen: „Wenn ich am Anfang meines Lebens gewusst hätte, was ich jetzt weiß, wie viele Fehler hätte ich vermeiden können! Wenn ich wieder anfangen sollte, würde ich mich ganz anders verhalten; aber die Zeit dafür gibt es nicht mehr!“ Wie der faule Arbeiter, der sagt: „Ich habe meinen Tag vergeudet“, sagt er sich auch: „Ich habe mein Leben verloren“. Aber genauso wie für den Arbeiter die Sonne am nächsten Tag wieder aufgeht und ein neuer Tag beginnt, der es ihm ermöglicht, die verlorene Zeit wiedergutzumachen, so wird für den Menschen ebenfalls – nach der Dunkelheit des Grabes – die Sonne eines neuen Lebens scheinen, in dem er die Erfahrungen der Vergangenheit und seine guten Vorsätze für die Zukunft nutzen kann.