DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

Zurück zum Menü
Verurteilt nicht, um nicht verurteilt zu werden! Derjenige, der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

11. Verurteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet! Denn ihr werdet verurteilt, so wie ihr andere verurteilt habt; und man wird euch mit demselben Maß messen, mit dem ihr die anderen gemessen habt. (Matthäus, Kap. VII, 1-2)


12. Da brachten Ihm die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war, stellten sie in die Mitte des Volkes und sagten zu Jesus: Meister, diese Frau ist beim Ehebruch überrascht worden. Nun hat Moses uns im Gesetz geboten, solche Ehebrecherinnen zu steinigen. Welches ist denn Deine Ansicht darüber? – Das sagten sie aber, um Ihn zu versuchen, damit sie einen Grund hatten, Ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. – Als sie ihn beharrlich weiterfragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie! – Und er bückte sich wieder und schrieb weiter auf die Erde. – Als sie ihn so sprechen hörten, gingen sie hinweg, einer nach dem andern, die Ältesten voran, und so blieb Jesus allein zurück mit der Frau, die in der Mitte des Platzes war.


Da richtete sich Jesus auf und sprach zu ihr: „Weib, wo sind deine Ankläger? Hat dich niemand verurteilt?“ – Sie sagte: „Nein, Herr!“ Jesus antwortete: „Auch ich werde dich nicht verurteilen. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Johannes, Kap. VIII, 3-11)


13. „Derjenige, der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, sagte Jesus. Diese Maxime macht uns die Nachsicht zur Pflicht, da es niemanden gibt, der sie nicht für sich selbst benötigt. Sie lehrt, dass wir andere nicht strenger beurteilen sollen, als wir uns selbst beurteilen würden; und auch nicht bei anderen verurteilen, was wir bei uns selbst entschuldigen. Bevor wir jemandem einen Fehler vorwerfen, schauen wir doch zuerst, ob der gleiche Tadel nicht auf uns selbst zutrifft.


Der Tadel, über das Benehmen von anderen geworfen, kann zwei Ursachen haben: das Böse bekämpfen oder die Person in Misskredit bringen, deren Handlungen wir kritisieren. Dieses letzte Motiv hat nie eine Entschuldigung, da er aus übler Nachrede und Bosheit besteht. Das Erste kann lobenswert sein und verwandelt sich sogar bei einigen Fällen in Pflicht, denn aus ihm kann sich das Gute ergeben und ohne es wäre das Böse in der Gesellschaft nie bekämpft worden; soll denn der Mensch nicht dem Fortschritt seiner Mitmenschen helfen? Man sollte also diesen Grundsatz nicht in seinem unumschränkten Sinn nehmen: „Verurteilt nicht, wenn ihr nicht verurteilt werden möchtet“, denn das Wort tötet und der Geist belebt.


Jesus konnte nicht verbieten, das Böse zu tadeln, da Er uns ja selbst das Beispiel gab und es mit energischen Worten machte. Er wollte aber sagen, dass die Autorität des Tadels im Verhältnis zu der moralischen Autorität von dem steht, der ihn ausspricht. Sich schuldig zu machen mit dem, was man bei anderen verurteilt, bedeutet, auf diese Autorität zu verzichten und es wäre zudem anmaßend, das Recht der Bekämpfung für sich in Anspruch zu nehmen. Außerdem lehnt das innere Gewissen allen Respekt und alle freiwillige Gehorsamkeit vor demjenigen ab, der mit Macht ausgestattet ist, aber die Gesetze und Prinzipien übertritt, mit deren Anwendung er beauftragt ist. Vor Gottes Augen gibt es keine rechtmäßige Autorität, außer der, die sich auf das gute Beispiel stützt; das geht gleichfalls aus den Worten Jesu hervor.