DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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KAPITEL XI
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst

• Das größte Gebot: Für die andern das zu tun, was wir möchten, das sie für uns tun. Das Gleichnis der Gläubiger und der Schuldner • Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist • Unterweisungen der geistigen Welt: Das Gesetz der Liebe; Der Egoismus; Der Glaube und die Nächstenliebe; Nächstenliebe gegenüber Kriminellen; Soll man sein Leben für einen Verbrecher aufs Spiel setzen?

Das größte Gebot

1. Als die Pharisäer hörten, dass Er den Sadduzäern den Mund gestopft hatte, versammelten sie sich; und einer von ihnen, ein Gesetzeskundiger, fragte Ihn, um Ihn zu versuchen: – Meister, welches ist das größte Gebot des Gesetzes? – Jesus antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. – Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. – Das ganze Gesetz und die Propheten sind in diesen zwei Geboten enthalten. (Matthäus, Kap. XXII, 34-40)

2. Alles nun, was ihr wollt, das euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun; denn darin besteht das Gesetz und die Propheten. (Matthäus, Kap. VII, 12)

Behandelt alle Menschen, wie ihr von ihnen behandelt werden möchtet. (Lukas, Kap. VI, 31)

3. Das Himmelreich ist gleich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. – Als er anfing abzurechnen, wurde einer zu ihm gebracht, der ihm zehntausend Talente schuldete. – Weil er jedoch nicht bezahlen konnte, befahl sein Herr, dass er und sein Weib und seine Kinder und alles, was er hatte, verkauft wird, um die Schuld abzutragen. – Der Knecht warf sich vor ihm nieder und flehte ihn an: Herr, habe doch Geduld mit mir, ich werde dir alles bezahlen. – Da hatte der Herr Erbarmen mit jenem Knecht und gab ihn frei, und die Schuld erließ er ihm. – Als aber jener Knecht hinausging, traf er einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war, er ergriff ihn an der Kehle, erwürgte ihn fast und sagte: Bezahle mir, was du mir schuldest! – Sein Mitknecht warf sich ihm zu Füßen und flehte ihn an: – Hab noch ein bisschen Geduld mit mir, ich werde dir alles bezahlen. – Der aber wollte ihn nicht erhören, sondern ging hin und ließ ihn ins Gefängnis werfen, solange, bis er die Schuld bezahlt hätte.

Als nun seine anderen Mitknechte sahen, was geschehen war, wurden sie sehr betrübt und gingen zu dem Herrn und berichteten alles, was geschehen war. – Da ließ sein Herr ihn herbeirufen und sagte zu ihm: – Du böser Knecht, ich habe dir jene ganze Schuld erlassen, weil du mich darum batest. Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen sollen, wie ich mich deiner erbarmt habe? Und sein Herr wurde zornig und übergab ihn den Folterknechten, bis er alles bezahlt hatte, was er ihm schuldig war.

So wird auch mein himmlischer Vater euch behandeln, wenn nicht jeder von euch seinem Bruder von ganzem Herzen die Fehler vergibt, die er euch gegenüber begangen hat. (Matthäus, Kap. XVIII, 23-35)

4. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; für die andern das tun, was wir möchten, das sie es für uns tun“, ist der vollständige Ausdruck der Nächstenliebe, weil er alle Pflichten der Menschen seinem Nächsten gegenüber enthält. Was dies anbetrifft, kann man keinen sichereren Leitfaden als Maßstab nehmen, als dass man dem andern tun soll, was man für sich selbst wünscht. Mit welchem Recht verlangen wir von unseren Nächsten eine bessere Handlungsweise, mehr Nachsicht, mehr Wohlwollen und mehr Aufopferung uns gegenüber, als wir selbst ihnen gewähren? Die Anwendung dieser Maxime führt zur Vernichtung des Egoismus. Wenn die Menschheit diese Maxime als Richtlinie und als Basis für ihre Institutionen annehmen wird, wird sie die wahre Brüderlichkeit verstehen und der Frieden und die Gerechtigkeit werden unter ihnen herrschen. Es wird keinen Hass, keine Streitigkeiten mehr geben, sondern nur Einigkeit, Eintracht und gegenseitiges Wohlwollen.

Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist

5. Nun entfernten sich die Pharisäer und planten unter sich, wie sie Ihn bei Seinen eigenen Worten ertappen könnten. – Und sie sandten ihre Jünger mit den Anhängern des Herodes zu Ihm und diese sagten: Meister, wir wissen, dass du wahrhaft bist und den Weg Gottes nach der Wahrheit lehrst und auf niemand Rücksicht nimmst, denn du beachtest nicht die Person in den Menschen. – Sage uns nun, was du dazu meinst: Steht es uns frei, dem Kaiser Steuern zu bezahlen oder nicht?

Da aber Jesus ihre Bosheit kannte, sprach Er: Warum bringt ihr mich in Versuchung, ihr Heuchler? Zeigt mir die Steuermünze! Da brachten sie Ihm einen Denar, und Jesus fragte: Von wem ist dieses Bild und die Aufschrift? – Des Kaisers, antworteten sie. Da sagte Jesus zu ihnen: So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.

Und als sie Ihn so sprechen hörten, bewunderten sie seine Antwort, verließen Ihn und zogen sich zurück. (Matthäus, Kap. XXII, 15-22; Markus, Kap. XII, 13-17)

6. Die an Jesus gestellte Frage war durch die Gegebenheit begründet, dass die Juden die Zahlung der von den Römern auferlegten Steuer verabscheuten und dadurch diese Zahlung zu einem religiösen Problem machten. Eine große Partei hatte sich gebildet, um diese Steuer abzulehnen. Die Zahlung der Steuer war daher für sie eine aktuelle Frage der Verärgerung, ohne die, die an Jesus gestellte Frage: „Steht es uns frei, dem Kaiser Steuern zu bezahlen oder nicht?“ keinen Sinn hätte. Diese Frage war eine Falle, denn sie hofften, je nach der Antwort, entweder die römischen Machthaber oder die jüdischen Dissidenten gegen Ihn aufzuwiegeln. Aber Jesus kannte ihre Bosheit und umging die Schwierigkeit, indem Er ihnen eine Lektion der Gerechtigkeit erteilte und ihnen sagte, dass man jedem das geben sollte, was man ihm schuldet. (Siehe Einleitung, Abschnitt: Zöllner)

7. Diese Maxime: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ darf nicht auf restriktive und absolute Weise verstanden werden. Wie alle Lehren Jesus ist dies ein allgemeiner Grundsatz, in einer praktischen und üblichen Art und Weise zusammengefasst und als Folge einer speziellen Gegebenheit. Dieses Prinzip ist die Konsequenz von jenem, das besagt, dass wir unsere Mitmenschen behandeln sollen, wie wir wünschen, von ihnen behandelt zu werden. Es verurteilt alle moralischen und materiellen Schäden, die man anderen zufügt und jegliche Verletzung ihrer Interessen; es schreibt den Respekt der Rechte eines jeden vor, so wie jeder es wünscht, dass seine Rechte respektiert werden. Es schließt sogar die Pflichterfüllung gegenüber der Familie, der Gesellschaft, den Behörden, sowie gegenüber allen Individuen ein.

Unterweisungen der geistigen Welt
Das Gesetz der Liebe

8. Die Liebe umfasst die ganze Lehre von Jesus, denn die Liebe ist das höchste Gefühl, und die Gefühle sind die Instinkte, die sich auf das Niveau des erreichten Fortschritts erhoben haben. An seinem Ausgangspunkt hat der Mensch nur Instinkte; fortgeschritten und korrumpiert, hat er nur Empfindungen; aber gebildet und geläutert, hat er Gefühle; und der höchste Ausdruck der Gefühle ist die Liebe, aber nicht die Liebe im gewöhnlichen Sinn des Wortes, sondern diese innere Sonne, die in ihrem glühenden Zentrum alles Streben und alle übermenschlichen Offenbarungen zusammenfasst und vereinigt. Das Gesetz der Liebe ersetzt die Persönlichkeit durch die Verschmelzung der Wesen; rottet das gesellschaftliche Elend aus. Glücklich ist derjenige, der seine Menschlichkeit überwindet und seine leidenden Brüder und Schwestern mit umfassender Liebe liebt. Glücklich derjenige, der liebt, weil er weder das Elend der Seele noch des Körpers kennt. Seine Füße sind leicht und er lebt wie in einem schwebenden Zustand außerhalb von sich selbst. Als Jesus das göttliche Wort - Liebe - ausgesprochen hat, erschrak das Volk, und die Märtyrer, erfüllt von Hoffnung, gingen in die Arena hinab.

Der Spiritismus seinerseits spricht das zweite Wort des göttlichen Alphabets. Seid achtsam, denn dieses Wort hebt die Steine der leeren Gräber hoch und die Reinkarnation, die über den Tod triumphiert, enthüllt den geblendeten Menschen ihr geistiges Erbe. Nicht mehr zur Qual führt sie den Menschen, sondern zur Eroberung seines Seins, erhaben und verwandelt. Das Blut befreite den Geist, und der Geist muss heute den Menschen von der Materie befreien.

Ich sagte, dass der Mensch am Ausgangspunkt nur Instinkte besitzt. Derjenige, bei dem die Instinkte überwiegen, befindet sich also näher dem Ausgangspunkt als dem Ziel. Um ans Ziel zu kommen, muss der Mensch seine Instinkte besiegen zugunsten der Gefühle, d.h. er muss die Gefühle vervollkommnen und die latenten Keime der Materie ersticken. Die Instinkte sind die entstehenden Keime und Embryos der Empfindung; sie tragen in sich den Fortschritt, wie die Eichel die Eiche in sich enthält, und die weniger entwickelten Wesen sind diejenigen, die nach und nach aus dem Kokon heraustreten, aber noch Sklaven ihrer Instinkte bleiben.

Der Geist muss kultiviert werden wie ein Feld. Der ganze zukünftige Reichtum hängt von der heutigen Arbeit ab, die euch viel mehr als den irdischen Besitz geben wird: die glorreiche Erhabenheit. Und dann, indem ihr das Gesetz der Liebe versteht, das alle Wesen vereinigt; werdet ihr in ihm die sanften Genüsse der Seele suchen, die das Präludium der himmlischen Freuden sind. (Lazarus, Paris, 1862)

9. Die Liebe ist göttlicher Natur und ihr alle, vom ersten bis zum letzten, besitzt tief in eurem Herzen den Funken dieses heiligen Feuers. Es ist eine Tatsache, die ihr sehr oft feststellen konntet: Der Mensch, so abscheulich, niedrig und verbrecherisch er auch sein mag, hat für irgendein Wesen oder Objekt eine starke und feurige Zuneigung, widerstandsfähig gegen alles, was sie zu verringern versucht, und die oft erhabene Dimensionen erreicht.

Für irgendein Wesen oder Objekt sagte ich, weil es unter euch Individuen gibt, deren Herz übervoll von kostbarer Liebe ist, die diese wertvollen Gefühle an Tiere, Pflanzen und sogar materielle Objekte verschenken: Arten von Menschenfeinden, die sich über die Menschheit im allgemeinen beklagen und der natürlichen Neigung ihrer Seele widerstreben, die um sich herum Zuneigung und Sympathie sucht. Sie erniedrigen das Gesetz der Liebe auf den Zustand des Instinkts. Aber was sie auch tun, es gelingt ihnen nicht, den lebendigen Keim zu ersticken, den Gott ihnen bei ihrer Schöpfung ins Herz gelegt hat. Dieser Keim entwickelt sich und wächst mit der Moral und der Intelligenz, und obwohl er sehr oft vom Egoismus unterdrückt wird, ist er die Quelle der heiligen und sanften Tugenden, die die echten und dauerhaften Zuneigungen ausmachen und auch helfen, die steilen und dürren Wege des Lebens zu durchschreiten.

Es gibt einige Menschen, die die Prüfung der Reinkarnation ablehnen, nur aus dem Grund, dass andere an den Zuneigungen teilhaben werden, auf die sie eifersüchtig sind. Arme Menschen! Es ist eure Zuneigung, die euch zu Egoisten macht: Eure Liebe beschränkt sich auf einen engen Kreis von Verwandten und Freunden und alle anderen sind euch gleichgültig. Also, um das Gesetz der Liebe zu praktizieren, so wie Gott es versteht, müsst ihr Schritt für Schritt dazu kommen, alle eure Mitmenschen ohne Unterschied zu lieben. Die Aufgabe ist langwierig und schwierig, aber sie wird vollendet werden, da Gott es so will, und das Gesetz der Liebe ist das erste und wichtigste Gebot eurer neuen Lehre, denn sie ist es, die eines Tages den Egoismus vernichten wird, egal in welcher Form er sich zeigt; denn außer dem persönlichen Egoismus gibt es auch noch den Egoismus hinsichtlich der Familie, der Gesellschaftsschichten und der Nationalität. Jesus hat gesagt: „Liebt eure Nächsten wie euch selbst“; also, wo ist die Grenze zu meinem Nächsten? Ist sie in der Familie, der Religion, im Vaterland? Nein, die ganze Menschheit ist darin eingeschlossen. In den höher entwickelten Welten ist es die gegenseitige Liebe, die die entwickelten Geister, die sie bewohnen, harmonisiert und leitet, und euer Planet, - zu einem baldigen Fortschritt bestimmt durch seine soziale Umwandlung - wird dieses erhabene Gesetz, ein Widerschein der Göttlichkeit, von ihren Bewohnern praktiziert sehen.

Die Auswirkungen des Gesetzes der Liebe sind die moralische Verbesserung der menschlichen Rasse und des Glücks während des irdischen Lebens. Die Rebellischsten und die Bösartigsten werden sich verbessern, wenn sie die wohltuenden Wirkungen sehen werden, die aus der Beachtung dieses Gebotes resultieren: Den anderen nicht das tun, was ihr nicht möchtet, das man es euch tut; aber tut ihnen im Gegenteil alles Gute, das in eurer Macht steht.

Glaubt nicht an die Unfruchtbarkeit und an die Verhärtung des menschlichen Herzens: Das Herz gibt ungewollt der wahren Liebe nach. Die Liebe ist ein Magnet, dem das Herz nicht widerstehen kann, und der Kontakt mit dieser Liebe belebt und befruchtet die Keime dieser Tugend, die sich im latenten Zustand in euren Herzen befindet. Die Erde, Aufenthaltsort der Prüfung und der Verbannung, wird dann durch dieses heilige Feuer gereinigt, und sie wird die Nächstenliebe, die Demut, die Geduld, die Aufopferung, die Selbstverleugnung und die Opferbereitschaft praktiziert sehen: Alles Tugenden, Töchter der Liebe.

Werdet also nicht müde, die Worte des Evangelisten Johannes zu hören. Als er aufgrund seiner Gebrechen und seines Alters nicht mehr in der Lage war zu predigen, wiederholte er, wie ihr wisst, stets nur diese sanften Worte: „Meine Kinder, liebt einander“.

Geliebte Freunde, wendet diese Lehre nutzbringend an: Die Ausübung ist sehr schwer, aber die Seele zieht unermesslich viel Gutes daraus. Glaubt mir, macht die erhabene Anstrengung, um die ich euch bitte: „Liebt einander“ und ihr werdet die Erde bald in ein Paradies verwandelt sehen, wo die Seelen der Gerechten die Ruhe genießen werden. (Fénelon, Bordeaux, 1861)

10. Meine lieben Mitschüler, die hier anwesenden Geister sagen euch durch meine Stimme: „Liebt viel, um geliebt zu werden“. Dieser Gedanke ist so gerecht, dass ihr in ihm alles finden werdet, was den Kummer eines jeden Tages tröstet und beruhigt, oder genauer gesagt: Indem ihr diesen weisen Grundsatz praktiziert, werdet ihr euch derartig über die Materie erheben, dass ihr euch geistig entwickeln werdet, bevor ihr eure sterbliche physische Hülle verlasst. Indem das Studium des Spiritismus euren Blick für die Zukunft erweitert hat, habt ihr eine Gewissheit: Den Fortschritt in Richtung Gott mit allen Versprechungen, die dem Streben eurer Seele entsprechen. Daher sollt ihr euch hoch emporheben, um ohne die Einschränkungen der Materie zu urteilen und ohne euren Nächsten zu verurteilen, bevor ihr eure Gedanken an Gott gerichtet habt.

Lieben, im tiefsten Sinn des Wortes, bedeutet treu, rechtschaffen und gewissenhaft zu sein, um den anderen das zu tun, was man für sich selbst wünscht, d.h., um sich herum den tiefsten Sinn aller Leiden zu suchen, die euren Nächsten niederdrücken, um ihm Linderung zu bringen. Das heißt, die große menschliche Familie wie eure eigene zu betrachten, weil ihr diese Familie nach einer bestimmten Zeit in den entwickelten Welten wiedertreffen werdet; und die Geister, die sie bilden, seid wie ihr, Gottes Kinder, an der Stirn gekennzeichnet, um sich in Richtung des Unendlichen emporzuheben. Deshalb könnt ihr euren Mitmenschen nicht verweigern, was Gott euch großzügig gegeben hat, weil ihr eurerseits sehr glücklich wärt, wenn eure Mitmenschen euch geben würden, was ihr benötigt. Habt also für alle Leiden ein Wort der Hoffnung und der Unterstützung, damit ihr ganz Liebe und Gerechtigkeit seid.

Glaubt, dass dieses weise Wort: „Liebt viel, um geliebt zu werden“, seinen Weg machen wird. Dieses Wort ist revolutionär, und es geht den Weg, der beständig und unveränderlich ist. Ihr habt aber bereits viel gewonnen, ihr, die ihr mir zuhört. Ihr seid schon unendlich besser, als ihr vor hundert Jahren wart; ihr habt so viel zu euren Gunsten verändert, dass ihr ohne Einwände eine Menge neuer Ideen über die Freiheit und Brüderlichkeit annehmt, welche ihr einst abgelehnt hättet. Nun, in hundert Jahren werdet ihr auch mit der gleichen Leichtigkeit diejenigen akzeptieren, die euch bis jetzt noch nicht in den Kopf wollen.

Heute, wo die spiritistische Bewegung einen so großen Schritt nach vorne gemacht hat, seht, mit welcher Schnelligkeit die Ideen der Gerechtigkeit und der Erneuerung, die in den Kundgebungen der Geister enthalten sind, von dem durchschnittlichen Teil der intelligenten Welt akzeptiert werden; weil diese Ideen allem entsprechen, was göttlich in euch ist. Ihr seid durch eine reiche Saat vorbereitet: Jene aus dem letzten Jahrhundert, die in die Gesellschaft die großen Ideen des Fortschritts eingepflanzt hat. Und da sich alles unter der Führung des Allerhöchsten aneinanderreiht, sind alle empfangenen und angenommenen Lehren in diesem universellen Austausch der Liebe zum Nächsten eingeschlossen. Die inkarnierten Geister, indem sie durch die Nächstenliebe besser urteilen und fühlen, werden sich die Hände bis an den äußersten Rand eures Planeten reichen. Man wird sich zusammen finden, um sich zu verstehen und zu lieben, um alle Ungerechtigkeiten und alle Ursachen der Unstimmigkeiten unter den Völkern zu vernichten.

Großer Erneuerungsgedanke durch den Spiritismus, der so gut im „Das Buch der Geister“ * dargelegt ist, du wirst das große Wunder des zukünftigen Jahrhunderts hervorbringen: die Vereinigung aller materiellen und spirituellen Interessen der Menschen durch die Anwendung dieses gut verstandenen Gebots: „Liebt viel, um geliebt zu werden“.(Sanson, ehemaliges Mitglied der „la Société Spirite de Paris“, 1863)

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* Anmerkung der Übersetzerin: „Das Buch der Geister“ wurde 1864 von Allan Kardec verfasst.

Der Egoismus

11. Der Egoismus, diese Plage der Menschheit, muss von der Erde verschwinden, da er ihren moralischen Fortschritt hemmt. Dem Spiritismus obliegt die Aufgabe, die Erde in der Hierarchie der Welten höher anzusiedeln. Der Egoismus ist daher das Ziel, gegen das alle wahren Gläubigen ihre Waffen, Kräfte und ihren Mut richten müssen. Ich sage: ihren Mut, weil man mehr davon braucht, um sich selbst zu besiegen als die anderen. Jeder soll also allen Eifer daran setzen, um den eigenen Egoismus in sich zu bekämpfen, weil dieses intelligenzverzehrende Monstrum, dieses Kind des Hochmuts, die Quelle allen Elends auf dieser Erde ist. Er ist die Verneinung der Nächstenliebe und folglich das größte Hindernis für das Glück der Menschen.

Jesus hat euch das Beispiel der Nächstenliebe gegeben, und Pontius Pilatus das des Egoismus; weil, während Jesus die heiligen Stationen Seines Martyriums durchläuft, Pilatus sich die Hände wäscht und sagt: „Was geht mich das an!“ Er sagte zu den Juden: „Dieser Mann ist gerecht, warum wollt ihr Ihn kreuzigen?“ Und trotzdem lässt er es zu, dass sie Ihn zur Hinrichtung bringen.

Dieser Gegensatz zwischen Nächstenliebe und Egoismus, dieser Überfall der Lepra über das menschliche Herz ist daran schuld, dass das Christentum seine ganze Mission noch nicht erfüllen konnte. Euch - neue Apostel des Glaubens, die ihr von den höheren Geistern aufgeklärt seid - obliegt die Aufgabe und die Pflicht, dieses Übel auszurotten, um dem Christentum seine ganze Kraft zu geben und den Weg von den Dornbüschen zu befreien, die seine Entwicklung behindern. Vertreibt den Egoismus von der Erde, damit sie in der Rangordnung der Welten höher kreisen kann. Es ist jetzt an der Zeit, dass die Menschheit sich unerschrocken zeigt, aber dazu muss zuerst der Egoismus aus euren Herzen vertrieben werden. (Emmanuel, Paris, 1861)

12. Wenn die Menschen sich gegenseitig lieben würden, würde die Nächstenliebe besser praktiziert; aber dafür müsst ihr euch anstrengen, um euch von dieser Panzerung zu befreien, die euer Herz bedeckt, um den Leidenden gegenüber sensibler sein zu können. Die Starrheit tötet die guten Gefühle. Jesus wies niemanden zurück. Derjenige, der sich an Ihn wendete, egal wer er auch war, wurde nicht abgewiesen: er half der Ehebrecherin und ebenso auch den Verbrechern. Er befürchtete niemals, dass sein eigenes Ansehen darunter leiden würde. Wann also werdet ihr Ihn zum Vorbild all eurer Handlungen nehmen? Wenn die Nächstenliebe auf der Erde herrschen würde, hätte das Böse nicht die Herrschaft; es würde beschämt fliehen; es würde sich verstecken, weil es sich überall fehl am Platze fühlen würde. Das Böse würde dann verschwinden; seid überzeugt davon. Fangt damit an, durch euch selbst das Beispiel zu geben. Seid zu allen barmherzig, ohne Unterschied. Bemüht euch, denjenigen nicht zu beachten, der euch mit Geringschätzung anschaut, und überlasst Gott die Gerechtigkeit, denn ER trennt jeden Tag in SEINEM Reich die Spreu vom Weizen.

Der Egoismus ist die Verneinung der Nächstenliebe. Somit kann es ohne Nächstenliebe keine Ruhe in der Gesellschaft geben. Ich behaupte sogar, auch keine Sicherheit. Mit dem Egoismus und dem Hochmut, die sich die Hände geben, wird es immer ein Rennen mit Vorteil für die Geschicktesten sein, ein Kampf der Interessen, wo die edlen Neigungen mit den Füßen getreten werden, wo selbst die heiligen Bande der Familie nicht mehr respektiert werden. (Pascal, Sens, 1862)

Der Glaube und die Nächstenliebe

13. Meine lieben Kinder, ich habe euch vor kurzem gesagt, dass die Nächstenliebe ohne den Glauben nicht ausreichend ist, um unter den Menschen eine soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, die fähig ist, sie glücklich zu machen. Ich hätte sagen sollen, dass Nächstenliebe ohne Glauben unmöglich ist. Ihr werdet in Wirklichkeit großzügige Impulse sogar unter denjenigen finden, die keine Religion haben, aber diese strenge Nächstenliebe, die nur durch Selbstverleugnung ausgeübt wird, durch das ständige Opfer aller egoistischen Interessen, zu der kann nur der Glaube inspirieren, da nur der Glaube uns dazu bringt, das Kreuz dieses Lebens mit Mut und Beharrlichkeit zu tragen.

Ja, meine Kinder, nutzlos ist es, wenn der genusssüchtige Mensch sich über sein Schicksal auf dieser Welt zu täuschen versucht, indem er behauptet, dass es ihm erlaubt sei, sich nur um sein Glück zu kümmern. Gewiss erschuf Gott uns, um in der Ewigkeit glücklich zu sein, jedoch muss das irdische Leben einzig und allein unserer moralischen Vervollkommnung dienen, welche viel leichter mit Hilfe der physischen Organe und der materiellen Welt erworben wird. Ohne die gewöhnlichen Schicksalsschläge des Lebens mitzuzählen, ist die Mannigfaltigkeit eurer Geschmäcker, Neigungen und Bedürfnisse auch ein Mittel für eure Vervollkommnung, indem ihr euch damit in der Nächstenliebe übt. Denn nur mit der Kraft der Zugeständnisse und der gegenseitigen Opferbereitschaft könnt ihr die Harmonie zwischen so verschiedenen Elementen aufrechterhalten.

Ihr werdet mit der Behauptung jedoch Recht haben, dass das Glück für den Menschen auf Erden bestimmt ist, wenn ihr es nicht in den materiellen Genüssen, sondern im Guten sucht. Die Geschichte des Christentums spricht von den Märtyrern, die mit Freude in ihr Martyrium gegangen sind. Heute und in eurer Gesellschaft braucht man um Christ zu sein, weder den Holocaust des Martyriums noch das Opfer des Lebens, sondern einzig und allein das Opfer eures Egoismus, eures Hochmuts und eurer Eitelkeit. Ihr werdet siegen, wenn die Nächstenliebe euch inspiriert und der Glaube euch stützt. (Schutzgeister, Krakau, 1861)

Nächstenliebe gegenüber Kriminellen

14. Die wahre Nächstenliebe ist eine der erhabensten Lehren, die Gott der Welt gegeben hat. Unter den wahren Schülern SEINER Lehre muss eine vollständige Brüderlichkeit existieren. Ihr sollt die Unglücklichen, die Kriminellen lieben wie Gottes Geschöpfe, denen die Vergebung und die Barmherzigkeit gewährt wird, wenn sie bereuen, wie auch euch die Fehler vergeben werden, die ihr gegen SEIN Gesetz begangen habt. Denkt daran, dass ihr sträflicher seid, schuldiger als diejenigen, denen ihr die Vergebung und das Mitgefühl verweigert, da sie oft Gott nicht kennen, wie ihr IHN kennt, und es wird von ihnen deshalb weniger verlangt als von euch.

Urteilt nicht, oh! urteilt nicht, meine lieben Freunde, weil das Urteil, das ihr fällt, bei euch noch strenger angewandt wird, und ihr braucht Nachsicht für die Sünden, die ihr ununterbrochen begeht. Wisst ihr nicht, dass es viele Handlungen gibt, die vor den reinen Augen Gottes Verbrechen sind, die aber von der Welt nicht einmal als leichte Fehler angesehen werden?

Die wahre Nächstenliebe besteht nicht allein aus den Almosen, die ihr gebt, auch nicht aus den tröstenden Worten, die sie begleiten; nein, das ist es nicht allein, was Gott von euch verlangt. Die erhabene, von Jesus gelehrte Nächstenliebe, besteht auch aus dem Wohlwollen, das ihr immer und bei allen Dingen euren Nächsten gewähren sollt. Ihr könnt diese erhabene Tugend auch bei vielen Menschen ausüben, die keine Almosen brauchen und die die Worte der Liebe, der Tröstung und der Ermutigung zum Herrn führen werden.

Die Zeiten sind nahe, sage ich nochmals, in denen die große Brüderlichkeit auf diesem Planeten herrschen wird. Das Gesetz Christi ist jenes, das die Menschen regieren wird, und nur dieses wird der Rückhalt und die Hoffnung sein und die Seelen zu den seligen Gefilden führen. Liebt euch deshalb wie die Kinder von eines gemeinsamen Vater; macht keinen Unterschied zwischen den anderen Unglücklichen, denn Gott will, dass alle gleich sind; verachtet niemanden. Gott erlaubt, dass große Verbrecher unter euch sind, damit sie euch zur Lehre dienen. Bald, wenn die Menschen zur Anwendung der wahren Gesetze Gottes gebracht werden, werden diese Lehren nicht mehr nötig sein, und alle unreinen und aufrührerischen Geister werden auf niedrigeren Welten verstreut, je nach ihren Neigungen. Ihr schuldet jenen, über die ich spreche, die Hilfe eurer Gebete: Dies ist die wahre Nächstenliebe.

Ihr sollt nicht von einem Verbrecher sagen: „Er ist ein elender Verbrecher; er muss von der Erde ausgemerzt werden; die Todesstrafe, die ihm auferlegt wurde, ist viel zu mild für solch einen Menschen“. Nein, so sollt ihr nicht reden. Schaut euer Vorbild an: Jesus. Was würde Er sagen, wenn Er diesen Unglücklichen neben Sich sehen würde? Er würde ihn bedauern, ihn als einen armseligen Kranken betrachten und ihm die Hand reichen. Ihr könnt das in Wirklichkeit nicht machen, aber ihr könnt zumindest für ihn beten, seinem Geist helfen während der kurzen Zeit, die er noch auf eurer Erde bleiben muss. Die Reue kann sein Herz berühren, wenn ihr mit Glauben betet. Er ist euer Nächster, wie der Beste unter den Menschen. Seine verirrte und aufrührerische Seele ist genau wie eure erschaffen worden, um sich zu verbessern. Helft ihm also aus diesem Sumpf herauszukommen und betet für ihn. (Elisabeth von Frankreich, Le Havre, 1862)

Soll man sein Leben für einen Verbrecher aufs Spiel setzen?

15. Ein Mensch ist in Lebensgefahr. Um ihn zu retten, muss man das eigene Leben aufs Spiel setzen; man weiß aber, dass dieser Mann ein Übeltäter ist und dass er, falls er überlebt, neue Verbrechen begehen kann. Soll man sich trotzdem der Gefahr aussetzen, um ihn zu retten?

Dies ist natürlich eine schwierige Frage, die man sich stellen kann. Ich werde entsprechend meiner moralischen Erkenntnis antworten, da es darum geht, zu wissen, ob man sein Leben für einen Verbrecher aufs Spiel setzen soll. Die Aufopferung ist blind: Rettet man einen Feind; so muss man einen Feind der Gesellschaft ebenso retten; anders ausgedrückt, einen Verbrecher. Glaubt ihr, dass man den Verbrecher nur aus dem Tod herauszieht? Man zieht ihn vielleicht auch aus seinem ganzen vergangenen Leben. Denn – denkt darüber nach – in diesen schnellen Augenblicken, die ihm seine letzten Minuten des Lebens nehmen, kehrt der verlorene Mensch zu seiner Vergangenheit zurück, oder vielmehr zeigt sich diese ihm. Vielleicht kommt der Tod zu früh für ihn; seine Reinkarnation könnte schrecklich werden. Eilt ihm zu Hilfe, Menschen! Ihr, die ihr durch die spiritistische Wissenschaft aufgeklärt seid; eilt ihm zu Hilfe, entreißt ihn seiner Verdammnis, dann wird sich dieser Mensch vielleicht in eure Arme werfen, der sonst, euch beschimpfend, sterben würde. Ihr sollt euch indessen keinesfalls fragen, ob er dies machen oder nicht machen wird, sondern sollt ihm zu Hilfe eilen; denn indem ihr ihn rettet, gehorcht ihr dieser Stimme eures Herzens, die euch sagt: „Du kannst ihn retten, also rette ihn!“ (Lamennais, Paris, 1862)