DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Der gütige Mensch

3. Der wahrhaft gütige Mensch ist derjenige, der das Gesetz der Gerechtigkeit, der Liebe und der Nächstenliebe in seiner größten Reinheit praktiziert. Wenn er sein Gewissen über seine eigenen Taten befragt, fragt er sich selbst, ob er nicht gegen dieses Gesetz verstoßen hat; ob er nichts Böses getan hat und ob er alles Gute, das er hätte tun können, getan hat; ob er nicht freiwillig eine Gelegenheit versäumt hat, nützlich zu sein; ob sich niemand über ihn beklagen könnte. Kurzum, ob er für den andern das getan hat, was er wünscht, dass man es ihm antun würde.


Er glaubt an Gott, an SEINE Güte, SEINE Gerechtigkeit und SEINE Weisheit; und er weiß, dass nichts ohne SEINE Erlaubnis geschieht und unterwirft sich in allen Dingen SEINEM Willen.


Er vertraut auf die Zukunft, deshalb stellt er die spirituellen Güter über die vergänglichen weltlichen Güter.


Er weiß, dass alle Schicksalsschläge des Lebens, alle Leiden und Enttäuschungen, Prüfungen oder Sühne sind, und er nimmt sie ohne Klagen an.


Der Mensch, erfüllt von dem Gefühl der Nächstenliebe und der Liebe, tut das Gute, um des Guten Willen, ohne eine Belohnung zu erwarten; erwidert das Böse mit Gutem; verteidigt den Schwachen gegenüber dem Starken und opfert stets sein eigenes Interesse zugunsten der Gerechtigkeit.


Er findet seine Genugtuung in den Wohltaten, die er vollbringt; in dem Dienst, den er leistet; in der Freude, die er bereitet; in den Tränen, die er trocknet; in dem Trost, den er den Betrübten gibt. Sein erster Impuls ist, an seinen Nächsten zu denken, bevor er an sich selbst denkt; die Interessen anderer vor seine eigenen zu setzen. Der Egoist kalkuliert im Gegenteil die Gewinne und Verluste all seiner Wohltaten.



Der gütige Mensch ist gütig, menschlich und wohlwollend zu jedermann, ohne Unterscheidung von Rassen oder Glauben, weil er alle Menschen als seine Geschwister ansieht. Er respektiert jede aufrichtige Überzeugung der andern und verdammt niemanden, der nicht wie er denkt.


In allen Situationen ist die Nächstenliebe sein Wegweiser. Er sagt sich, dass derjenige – auch wenn er es vermeiden könnte – der andern durch böse Worte Schaden zufügt, der die Empfindlichkeit eines andern durch seinen Stolz und seine Verachtung verletzt, der nicht vor dem Gedanken zurückweicht, Leid, Unruhe und Unannehmlichkeiten, selbst geringe, zu verursachen, seine Pflicht zur Nächstenliebe vernachlässigt und die Gnade Gottes nicht verdient.


Er hat weder Hass noch Groll noch hegt er Gedanken der Rache. Gemäß Jesu Beispiel vergibt und vergisst er die Beleidigungen und erinnert sich nur an die Wohltaten, weil er weiß, dass ihm vergeben wird, so wie er selber vergeben hat.


Er ist nachsichtig mit den Schwächen anderer, denn er weiß, dass er auch die Nachsicht benötigt, und er erinnert sich an diese Worte Jesu: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“.


Er findet keinen Gefallen daran, Fehler anderer zu suchen noch diese öffentlich hervorzuheben. Aber wenn die Notwendigkeit ihn dazu verpflichtet, sucht er immer das Gute, welches das Schlechte abmildern kann.


Er beobachtet seine eigene Unvollkommenheit und arbeitet unaufhörlich daran, sie zu bekämpfen. Alle seine Bemühungen zielen darauf hin, sich selbst am nächsten Tag sagen zu können, dass in ihm irgendetwas besser ist, als am Tag vorher.


Er versucht weder seinen Geist noch seine Begabungen auf Kosten anderer aufzuwerten; er nutzt im Gegenteil jede Gelegenheit, um die Vorteile anderer hervorzuheben. Er ist weder auf sein Vermögen noch auf seine persönlichen Vorteile stolz, weil er weiß, dass alles, was ihm gegeben worden ist, ihm wieder genommen werden kann.


Er gebraucht die Dinge, die ihm gewährt wurden, missbraucht sie aber nicht, weil er weiß, dass sie eine Hinterlegung sind, worüber er Rechenschaft ablegen muss, und dass es die schädlichste Anwendung für ihn selber ist, wenn er sie zur Befriedigung seiner Leidenschaften verwendet.


Falls durch seine gesellschaftliche Position Menschen in seine Abhängigkeit gestellt wurden, behandelt er sie mit Güte und Wohlwollen, weil sie vor Gott seinesgleichen sind. Er benutzt seine Autorität, um sie moralisch zu erheben, anstatt sie mit seinem Stolz zu erdrücken; er vermeidet alles, was ihre untergeordnete Stellung beschwerlicher machen könnte.


Der Untergeordnete versteht seinerseits die Pflichten seiner Stellung und verpflichtet sich, sie gewissenhaft zu erfüllen. (Kap. XVII, Nr. 9)


Der gütige Mensch achtet alle Rechte, die seinesgleichen durch die Naturgesetze gegeben wurden, so wie auch er möchte, dass man sie bei ihm achtet.


Dies ist noch keine Aufzählung aller Eigenschaften, die den gütigen Menschen auszeichnen, aber derjenige, der sich bemüht diese zu besitzen, ist auf dem Weg, der zu all den weitern führt.