DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Unterweisungen der geistigen Welt
Richtiges und falsches Leiden


18. Als Christus sagte: „Selig sind die Leidenden, denn ihrer ist das Himmelreich“, meinte Er im Allgemeinen nicht diejenigen, die leiden, denn alle, die sich auf der Erde befinden, leiden, egal ob auf einem Thron oder auf dem Stroh. Aber leider! Wenige können gelassen leiden; wenige können verstehen, dass nur die duldsam erlittenen Prüfungen sie zum Reich Gottes führen können. Die Mutlosigkeit ist ein Verstoß. Gott verweigert euch Tröstungen, weil es euch an Mut fehlt. Das Gebet ist eine Stütze für die Seele; aber es genügt nicht: Es ist notwendig, dass das Gebet sich auf einem festen Glauben an Gottes Güte beruht. ER hat euch oft gesagt, dass ER keine schweren Lasten auf schwache Schultern lädt. Die Last entspricht den vorhandenen Kräften, so wie auch die Belohnung der Gelassenheit und dem Mut entsprechen wird. Je schmerzlicher der Kummer war, umso größer wird die Belohnung sein. Aber diese Belohnung muss verdient werden und deswegen ist das Leben voller Widrigkeiten.


Der Soldat, der nicht an die Front geschickt wird, ist unzufrieden, weil die Ruhe im Lager ihm keine Beförderung ermöglicht. Seid also wie der Soldat und wünscht euch keine Ruhe, die euch nervös macht und eure Seelen erstarren lässt. Freut euch, wenn Gott euch in den Kampf schickt. Dieser Kampf – nicht das Kanonenfeuer der Schlacht – sondern die Bitterkeiten des Lebens sind es, in denen man manchmal mehr Mut braucht als in einer blutigen Schlacht; denn es ist nicht selten, dass derjenige, angesichts eines Feindes stark bleibt, bei einem seelischen Leid schwach wird. Der Mensch bekommt keine Belohnung für diese Art von Mut, aber Gott reserviert ihm die Siegeskrone und einen ruhmreichen Platz. Wenn bei euch ein Grund zum Leid oder zur Verärgerung entsteht, versucht ihn zu überwinden und wenn es euch gelingt, den Impuls der Ungeduld, des Zorns und der Verzweiflung zu beherrschen, sagt euch selbst voller gerechter Freude: „Ich war der Stärkere“.


„Selig sind die Leidenden“, kann man also auch so ausdrücken: „Selig sind diejenigen, die die Gelegenheit haben, ihren Glauben, ihre Entschlossenheit, Beharrlichkeit und Unterwerfung unter Gottes Willen zu beweisen, denn sie werden die Freude, die ihnen auf der Erde fehlt, hundertfach bekommen, und nach der Arbeit kommt die Ruhe. (Lacordaire, Havre, 1863)


Leiden und deren Heilmittel


19. Ist die Erde ein Ort der Freude, ein Paradies der Genüsse? Hallt die Stimme des Propheten nicht mehr in euren Ohren wider? Hat er nicht verkündigt, dass es Tränen und Zähneknirschen für diejenigen gäbe, die in diesem Leidental geboren würden? Ihr alle, die ihr hierher gekommen seid, um zu leben, macht euch gefasst auf quälende Tränen und bitteres Leid, und je stärker und tiefer eure Schmerzen sein werden, blickt zum Himmel und dankt dem Herrn, dass ER euch hat prüfen wollen. Oh Menschen! Ihr werdet die Macht eures Herrn erst erkennen, wenn ER die Wunden eures Körpers geheilt und eure Tage mit Seligkeit und Freude gekrönt hat. Ihr werdet SEINE Liebe erst erkennen, wenn ER euren Körper mit allen Herrlichkeiten geschmückt und ihm seinen Glanz und seine Reinheit zurückgegeben hat. Ahmt denjenigen nach, der euch als Vorbild gegeben wurde. Als Er die letzte Stufe der Abscheulichkeit und Erbärmlichkeit erreicht hatte und auf einem Misthaufen lag, sagte Er zu Gott: „Herr, ich habe alle Wonnen des Reichtums kennengelernt und Du hast mich in einen völlig erbärmlichen Zustand versetzt; danke, danke, mein Gott, dass DU DEINEN Diener hast prüfen wollen“. Wie lange noch werden eure Blicke am Horizont verweilen, der vom Tod gezeichnet ist? Wann wird sich eure Seele endlich jenseits der Grenzen eures Grabes emporschwingen? Wenn ihr euer ganzes Leben weinen und leiden müsstet, was wäre das neben der Ewigkeit des Ruhms, der für denjenigen bereitgehalten wird, der seine Prüfungen mit Glaube, Liebe und Gelassenheit erduldet hat? Sucht deshalb die Tröstungen für eure Leiden in der Zukunft, die Gott euch bereitet und sucht die Ursachen eurer Leiden in eurer Vergangenheit. Und ihr, die ihr am meisten leidet, haltet euch für die Glücklichen dieser Erde.


Im Zustand des nicht inkarnierten Geistes, als ihr in der geistigen Sphäre wart, habt ihr eure Prüfungen ausgewählt, weil ihr euch stark genug fühltet, um sie zu ertragen. Warum murrt ihr jetzt? Ihr, die ihr um Reichtum und Ruhm gebeten habt, um die Versuchung des Kampfes auszuhalten und zu siegen. Ihr, die ihr gebeten habt, mit Leib und Seele gegen das moralische und physische Übel zu kämpfen, wusstet, dass je stärker die Prüfung, desto glorreicher der Sieg wäre, und wenn ihr daraus triumphierend hervorkommt, wenn auch euer Körper auf einen Müllhaufen geworfen würde, würde er anlässlich seines Todes eine glänzend weiße Seele entfliehen lassen, gereinigt durch die Taufe der Sühne und des Leidens.


Also welches Hilfsmittel könnte man denjenigen verordnen, die von grausamen Besessenheiten und quälenden Leiden betroffen sind? Nur eins ist absolut sicher: der Glaube, der Blick zum Himmel. Wenn beim Anfall eurer grausamen Leiden eure Stimme für den Herrn singt, dann zeigt euch der Engel an eurem Bett mit seiner Hand das Zeichen der Rettung und den Platz, den ihr eines Tages bewohnen werdet. Der Glaube ist das sichere Heilmittel des Leids; er zeigt immer die Horizonte des Unendlichen, vor denen die wenigen düsteren Tage der Gegenwart verblassen. Fragt uns also nicht mehr, welches Heilmittel man anwenden soll, um dieses Geschwür oder jene Wunde zu heilen oder diese Versuchung oder jene Prüfung zu bewältigen. Erinnert euch daran, dass derjenige, der glaubt, durch das Heilmittel des Glaubens stark ist, und dass derjenige, der eine Sekunde an seiner Wirksamkeit zweifelt, sofort bestraft wird, weil er in diesem Augenblick die quälenden Ängste des Kummers fühlt.


Der Herr hat alle, die an IHN glauben, mit SEINEM Stempel gekennzeichnet. Christus sagte euch, dass man mit dem Glauben Berge versetzt, und ich sage euch, dass derjenige, der leidet und den Glauben als Stütze hat, unter seine Obhut gestellt wird und nicht mehr leiden wird. Die Momente der stärksten Schmerzen werden für ihn die ersten Kennzeichen der Freude der Ewigkeit sein. Seine Seele wird sich derartig vom Körper loslösen, dass – während dieser sich vor Krämpfen windet – sie in den himmlischen Regionen verweilt und mit den Engeln die Hymnen der Dankbarkeit, dem Herrn zur Ehre singen wird.


Glücklich diejenigen, die leiden und weinen! Ihre Seelen mögen sich freuen, denn von Gott werden sie Glückseligkeit erfahren. (Sankt Augustin, Paris, 1863)


Das Glück ist nicht von dieser Welt


20. Ich bin nicht glücklich! Das Glück ist nicht für mich gemacht! ruft im Allgemeinen der Mensch in allen Gesellschaftsschichten aus. Dies, meine lieben Kinder, beweist besser als alle möglichen Überlegungen die Wahrheit der Grundsatzes, den der Prediger Salomo so formulierte: „Das Glück ist nicht von dieser Welt“. In der Tat sind weder der Reichtum noch die Macht, und auch nicht die blühende Jugend wesentliche Voraussetzungen für das Glück. Ich sage sogar: „Nicht einmal die Vereinigung dieser drei so begehrten Voraussetzungen genügt, denn man hört unaufhörlich von Menschen jeden Alters im Milieu der privilegierten Schichten bittere Beschwerden über die Situation, in der sie sich befinden.


Vor solchem Ergebnis ist es unfassbar, dass die fleißigen und aktiven Gesellschaftsschichten mit so viel Gier die Position derjenigen beneiden, die das Glück begünstigt zu haben scheint. Auf dieser Welt, egal was man auch macht, hat jeder seinen Anteil an mühsamer Arbeit und Elend, an Leiden und Enttäuschungen; woraus man zweifelsohne schließen kann, dass die Erde ein Ort der Prüfungen und Sühne ist.


Daher irren sich diejenigen, die predigen, dass die Erde der einzige Aufenthalt des Menschen ist, und dass es ihm nur auf ihr und in einer einmaligen Existenz möglich ist, die höchste Stufe des Glücks zu erreichen, die seine Natur zulässt. Und sie betrügen diejenigen, die ihnen Gehör schenken, weil durch jahrhundertealte Erfahrung bewiesen worden ist, dass diese Welt nur ausnahmsweise die notwendigen Bedingungen für das vollständige Glück des Individuums bereithält.


Als allgemeine These kann man behaupten, dass das Glück eine Utopie ist, das alle Generationen nach und nach zu erringen versuchen, ohne es jemals zu erreichen. Denn, wenn der weise Mensch eine Seltenheit auf dieser Welt ist, trifft man den völlig glücklichen Menschen noch weniger.


Das, woraus das Glück auf der Erde besteht, ist eine so vergängliche Sache für denjenigen, der nicht vom Verstand geleitet wird, denn außer einem Jahr, einem Monat oder einer Woche vollständiger Freude verrinnt der ganze Rest der Existenz in einer Serie von Verdruss und Enttäuschungen. Und beachtet, meine lieben Kinder, dass ich von den Glücklichen der Erde spreche, von denen, die von der Masse beneidet werden.


Wenn also folglich der irdische Aufenthalt für die Prüfungen und Sühnen bestimmt ist, dann muss man wohl zugeben, dass es woanders begünstigtere Welten geben muss, wo der Geist des Menschen, zwar immer noch an einen materiellen Körper gebunden, die Fülle der Freuden des menschlichen Lebens genießt. Deswegen hat Gott euch in die Menge der Planeten diese schönen höheren Welten gestreut, von denen ihr durch eure Bemühungen und eure Neigungen eines Tages angezogen werdet, wenn ihr genügend gereinigt und vervollkommnet seid.
Dennoch folgert nicht aus meinen Worten, dass die Erde für immer prädestiniert ist, eine Strafanstalt zu sein. Bestimmt nicht! Denn aus den schon verwirklichten Fortschritten könnt ihr mühelos auf die zukünftigen Fortschritte schließen, und aus den bereits erreichten sozialen Verbesserungen, neue und ergiebigere. Das ist die immense Aufgabe, die die neue Lehre erfüllen muss, welche die Geister euch offenbart haben.



Also meine lieben Kinder, ein heiliger Eifer möge euch beleben, sodass jeder von euch energisch den alten Menschen ablegt. Ihr seid zur Verbreitung des Spiritismus verpflichtet, der schon zu eurer eigenen Erneuerung beigetragen hat. Es ist eure Pflicht, eure Brüder und Schwestern an den Strahlen des heiligen Lichts teilhaben zu lassen. Also an die Arbeit, meine sehr geliebten Kinder! Dass in dieser feierlichen Sitzung alle eure Herzen nach diesem großartigen Ziel streben: Eine Welt für die zukünftigen Generationen vorzubereiten, wo das Wort Glück nicht mehr ein leeres Wort sein wird. (François-Nicolas-Madeleine, Kardinal Morlot, Paris, 1863)


Verlust geliebter Menschen – Frühtod


21. Wenn der Tod in eure Familien kommt und ohne Einschränkungen die Jüngeren vor den Älteren hinwegrafft, pflegt ihr zu sagen: Gott ist ungerecht, denn ER opfert einen, der stark ist und eine großartige Zukunft vor sich hat, und lässt jene am Leben, die schon lange Jahre voller Enttäuschungen gelebt haben; denn ER nimmt die, die nützlich sind und lässt diejenigen, die zu nichts mehr taugen; und ER zerbricht das Herz einer Mutter, indem ER ihr das unschuldige Wesen entzieht, das ihre ganze Freude war.


Menschen, hier müsst ihr euch über das alltägliche Leben erheben, um zu verstehen, dass das Gute oft da ist, wo ihr meint das Übel zu sehen; die weise Vorsehung da, wo ihr glaubt, das blinde unabwendbare Schicksal zu sehen. Warum messt ihr die göttliche Gerechtigkeit an dem Wert eurer eigenen? Könnt ihr glauben, dass der Herr der Welten euch aus reiner Laune heraus grausame Strafen auferlegen möchte? Nichts geschieht ohne einen bestimmten Zweck, und egal was geschieht, alles hat eine Daseinsberechtigung. Wenn ihr jeden Kummer, der euch trifft, besser durchschauen würdet, würdet ihr in ihm immer die göttliche Vernunft finden, erneuernde Vernunft, und eure schäbigen Interessen wären so nebensächlich, dass ihr sie schließlich verwerfen würdet.


Glaubt mir, der Tod im Alter von 20 Jahren ist besser als diese schamhaften Regellosigkeiten, die ehrwürdige Familien betrüben, das Herz einer Mutter zerbrechen und frühzeitig die Haare der Eltern weiß werden lassen. Der frühe Tod ist oft ein großes Geschenk Gottes an denjenigen, der stirbt und der ihn so vor Lebensleid beschützt und vor Versuchungen, die ihn vielleicht ins Verderben gestürzt hätten. Derjenige, der im besten Alter stirbt, ist kein Opfer des Schicksals, denn Gott hält es nützlicher für ihn, nicht länger auf der Erde zu bleiben.
Es ist ein grausames Unglück, sagt ihr, dass ein Leben voller Hoffnung so früh genommen wird. Von welchen Hoffnungen sprecht ihr? Von den irdischen Hoffnungen, wo der Weggegangene hätte glänzen sowie Karriere machen und reich werden können? Immer dieser engstirnige Blick, der sich nicht über die Materie erheben kann. Wisst ihr, welches Schicksal dieses Leben – eurer Meinung nach, so voller Hoffnung – gehabt hätte? Wer sagt euch, dass es nicht durch bitteres Leid verkürzt worden wäre? Ihr haltet nichts von den Hoffnungen des zukünftigen Lebens und bevorzugt jene des vergänglichen Lebens, welches ihr auf der Erde vertrödelt? Denkt ihr also, dass eine hohe Stellung unter den Menschen mehr wert ist als eine unter den glückseligen Geistern?




Freut euch, anstatt euch zu beschweren, wenn es Gott gefällt, eines eurer Kinder aus diesem Tal des Elends herauszunehmen. Ist es nicht egoistisch zu wünschen, dass es da bleibt, um mit euch zu leiden? Ach! dieser Schmerz ist denkbar bei demjenigen, der keinen Glauben hat und im Tod eine ewige Trennung sieht. Ihr Spiritisten wisst doch, dass die Seele besser lebt, wenn sie von ihrer körperlichen Hülle befreit ist. Mütter, wisst ihr, dass eure geliebten Kinder nahe bei euch sind; ja, sie sind sehr nahe; ihre Perispirit umhüllen euch, ihre Gedanken schützen euch, eure Erinnerung an sie bereiten ihnen Freude; aber eure unvernünftigen Schmerzen bedrücken sie auch, weil sie mangelnden Glauben zeigen und eine Auflehnung gegen Gottes Willen sind.


Ihr, die ihr das spirituelle Leben versteht, hört die Pulsschläge eures Herzens, wenn ihr diese geliebten Wesen ruft und wenn ihr Gott darum bittet, sie zu segnen, werdet ihr in euch diese mächtigen Tröstungen spüren, die die Tränen trocknen, dieses wunderbare Streben, das euch die von dem souveränen Herrn versprochene Zukunft zeigen wird. (Sanson, ehemaliges Mitglied der Spiritistischen Gesellschaft von Paris, 1863)


Wenn er ein guter Mensch gewesen wäre, wäre er gestorben.


22. Wenn ihr von einem schlechten Menschen sprecht, der einer Gefahr entronnen ist, pflegt ihr zu sagen: „Wenn er ein guter Mensch gewesen wäre, wäre er gestorben“. Also, indem ihr so sprecht, sagt ihr eine Wahrheit, denn häufig geschieht es, dass Gott einem Geist, dessen Fortschritt erst anfängt, eine längere Prüfung auferlegt als einem Guten, der als Belohnung seines Verdienstes die Gnade bekommt, dass seine Prüfung so kurz wie möglich wird. Folglich, wenn ihr diesen Grundsatz anwendet, ahnt ihr nicht, dass ihr eine Gotteslästerung aussprecht.


Wenn ein guter Mensch stirbt, dessen Nachbar ein schlechter Mensch ist, sagt ihr: „Es wäre besser gewesen, wenn jener gestorben wäre“. Ihr macht einen großen Fehler, denn derjenige, der gestorben ist, hat seine Aufgabe beendet, und der Gebliebene hat seine vielleicht noch gar nicht angefangen. Warum also wünscht ihr, dass der schlechte Mensch keine Zeit bekommt, seine Aufgabe zu beenden, und dass der gute Mensch weiter mit der Erde verhaftet bleibt? Was würdet ihr von einem Gefangenen sagen, der seine Strafzeit beendet hat, aber weiter im Gefängnis festgehalten wird, gleichzeitig aber schenken sie die Freiheit einem, der kein Recht darauf hat? Ihr sollt wissen, dass die wahre Freiheit für den Geist in der Ablösung von den physischen Bindungen besteht, und dass ihr in Gefangenschaft lebt, solange ihr auf der Erde seid.


Gewöhnt euch daran, nicht zu tadeln, was ihr nicht verstehen könnt und glaubt daran, dass Gott in allem gerecht ist. Was euch oft als Böses erscheint, ist doch ein Gutes. Eure Fähigkeiten sind aber so begrenzt, dass eure stumpfen Sinne die Gesamtheit des Ganzen nicht wahrnehmen können. Bemüht euch in Gedanken aus eurer beengten Sphäre herauszugehen und je nachdem wie ihr euch erhebt, erfährt das materielle Leben in euren Augen eine geringere Wertung, es wird euch in der unendlichen Dauer eurer spirituellen Existenz – der einzig wahren Existenz – gleichsam wie ein Zwischenfall erscheinen. (Fenelon, Sens, 1861)


Freiwillige Qualen



23. Der Mensch ist unaufhörlich auf der Suche nach dem Glück, welches ihm immer wieder entflieht, weil es das reine Glück auf Erden nicht gibt. Trotz der Schicksalsschläge, die das irdische Leben unvermeidlich begleiten, könnte der Mensch jedoch zumindest ein relatives Glück genießen, wenn er das Glück nicht in den vergänglichen Dingen suchen würde, die ebenso an die gleichen Schicksalsschläge gebunden sind. So sucht er das Glück in den materiellen Genüssen statt in den Genüssen der Seele, die ein Vorgeschmack der unvergänglichen, himmlischen Genüsse sind. Statt den Frieden des Herzens zu suchen – das einzig wahre Glück auf dieser Welt – sucht er gierig alles, was ihn aufregt und beunruhigt. Merkwürdig! Es scheint so, als ob der Mensch sich absichtlich Qualen verschafft, die er leicht vermeiden könnte.


Gibt es größere Leiden als die durch Neid und Eifersucht verursachten? Für die neidischen und eifersüchtigen Menschen gibt es keine Ruhe; sie leben andauernd in einem fieberhaften Zustand. Wenn sie nicht haben, was andere besitzen, lässt sie das nicht schlafen. Die Erfolge ihrer Rivalen rufen Schwindelanfälle bei ihnen hervor. Ihr Bestreben ist einzig darauf ausgerichtet, andere in den Schatten zu stellen. Auch besteht ihre ganze Freude darin, bei gleichgesinnten Menschen die verzehrende Eifersuchtswut zu erregen. Arme Unvernünftige! In der Tat denken sie nicht einmal daran, dass sie vielleicht schon morgen diese ganze Lappalie loslassen müssen, deren Habgier ihr Leben vergiftet. Diese Worte passen gewiss nicht zu ihnen: „Selig sind die Leidenden, denn sie werden getröstet“, denn ihre Sorgen sind nicht diejenigen, die ihre Kompensation im Himmel haben.




Wie viel Leid wird im Gegenteil demjenigen erspart, der zufrieden ist mit dem, was er hat; der ohne Neid betrachtet, was er nicht besitzt; der nicht versucht mehr zu scheinen als er in Wirklichkeit ist. Dieser ist immer ein reicher Mensch, denn wenn er nach unten schaut und nicht nach oben, sieht er immer Menschen, die weniger haben als er. Er ist ruhig, weil er für sich keine utopischen Bedürfnisse schafft. Und die Ruhe, inmitten der Stürme des Lebens, ist sie nicht ein Glück? (Fénelon, Lion, 1860)



Wirkliches Unglück



24. Jeder spricht vom Unglück, jeder hat es schon mal erlebt und glaubt seinen vielfältigen Charakter zu kennen. Ich komme, um euch zu sagen, dass fast jeder sich irrt, und dass das wirkliche Unglück keinesfalls das ist, was die Menschen, d.h. die Unglücklichen, vermuten. Sie sehen das Unglück in dem Elend, in dem Kamin ohne Feuer, in dem drohenden Gläubiger, in der leeren Wiege ihres Kindes, das vorher darin lachte, in den Tränen, in dem Sarg, dem man mit unbedecktem Kopf und zerbrochenem Herzen folgt, in der Angst des Verrates, in der Entblößung des Hochmutes, der sich mit Purpur bekleiden wollte und der seine Nacktheit nur mit Mühe unter den Lumpen der Eitelkeit verstecken kann. Dies alles und noch vieles mehr bezeichnet ihr in eurem menschlichen Sprachgebrauch Unglück. Ja, dies ist das Unglück für diejenigen, die nichts außer der Gegenwart sehen. Aber das wirkliche Unglück liegt mehr in den Konsequenzen einer Sache als in der Sache selbst. Sagt mir, ob ein im Augenblick glückliches Ereignis, das aber verhängnisvolle Folgen hat, in Wirklichkeit nicht unglücklicher ist als jenes, das zuerst eine Unannehmlichkeit verursacht und am Ende Gutes hervorbringt. Sagt mir, ob das Gewitter, das eure Bäume zerschlägt, die Luft aber säubert, indem es die gesundheitsschädlichen Miasmen auflöst, die den Tod verursachen könnten, nicht eher ein Glück ist als ein Unglück.



Um eine Sache beurteilen zu können, müssen wir die Folgen davon sehen. Folglich, um zu erkennen, was für den Menschen wirklich glücklich oder unglücklich ist, muss man sich jenseits dieses Lebens versetzen, denn dort lassen sich davon die Konsequenzen spüren. Also alles, was er aus seiner kurzen Sicht heraus Unglück nennt, hört mit dem Leben auf und findet seine Kompensation im zukünftigen Leben.



Ich werde euch das Unglück auf eine neue Weise offenbaren, auf eine schöne und blühende Weise, die ihr mit der ganzen Kraft eurer getäuschten Seelen annehmt und ersehnt. Das Unglück ist die Lust, das Vergnügen, der Lärm, die grundlose Unruhe und die unsinnige Befriedigung der Eitelkeit, die das Gewissen zum Schweigen bringen, die Gedankentätigkeit unterdrücken und den Menschen hinsichtlich seiner Zukunft durcheinander bringen. Das Unglück ist das Opium des Vergessens, das ihr leidenschaftlich erstrebt.



Hofft, die ihr weint! Zittert, die ihr lacht, weil euer Körper befriedigt ist! Man betrügt Gott nicht und entkommt nicht seinem Schicksal; und die Prüfungen, welche erbarmungslosere Gläubiger sind, als eine aufgrund der Notlage tobende Horde, lauern eurer trügerischen Ruhe auf, um euch plötzlich in die Auseinandersetzungen des wahren Unglücks zu stürzen, eines Unglücks, das die durch Gleichgültigkeit und Egoismus erlahmte Seele ertappt.



Der Spiritismus klärt euch über Wahrheit und Irrtum auf, die auf so seltsame Weise durch eure Blindheit entstellt sind, und stellt beides wieder ins rechte Licht. Ihr werdet dann wie tapfere Soldaten handeln, die – weit davon entfernt, vor der Gefahr zu fliehen – die risikoreichen Kämpfe dem Frieden vorziehen, der ihnen weder Ruhm noch eine Beförderung einbringen kann! Was bedeutet es schon für einen Soldaten, im Kampf seine Waffe, sein Gepäck und seine Kleidung zu verlieren, wenn er als Sieger und mit Ruhm daraus hervorgeht? Was bedeutet es für denjenigen, der an ein Weiterleben in der Zukunft glaubt, auf dem Schlachtfeld des irdischen Lebens, sein Vermögen und seine physische Hülle zu lassen, sofern seine Seele strahlend in das Himmelsreich eingeht? (Delphine de Girardin, Paris, 1861)



Die Schwermut



25. Wisst ihr, warum ab und zu eine vage Traurigkeit von eurem Herz Besitz ergreift und deshalb das Leben für sehr bitter haltet? Es ist euer Geist, der sich nach Glück und Freiheit sehnt, aber in den Körper eingesperrt ist, aus dem herauszukommen er sich vergeblich bemüht. Indem er jedoch feststellt, dass seine Bemühungen nutzlos sind, verliert er den Mut und davon beeinflusst überfällt euren Körper, Wehmut, Niedergeschlagenheit und eine Art von Apathie und ihr fühlt euch unglücklich.



Glaubt mir, widersteht energisch diesen Eindrücken, die euren Willen schwächen. Dieses Sehnen nach einem besseren Leben ist dem Geist aller Menschen angeboren, sucht es aber nicht in dieser Welt. Und zur jetzigen Zeit, in der Gott euch SEINE Geister sendet, um euch über das für euch reservierte Glück zu unterweisen, wartet geduldig auf den Engel der Befreiung, der euch helfen wird, die Fesseln zu lösen, die euren Geist gefangen halten. Denkt daran, dass ihr während eurer Prüfung auf Erden eine Mission zu erfüllen habt, woran ihr nicht zweifeln dürft, sei es durch die Aufopferung für eure Familie, sei es durch die Erfüllung verschiedener Pflichten, die Gott euch auferlegte. Und wenn während dieser Prüfung und bei der Erfüllung eurer Aufgabe, ihr die Sorgen, die Unruhe, den Kummer auf euch stürzen seht, seid stark und mutig, um sie zu ertragen. Tretet ihnen offen entgegen; sie sind von kurzer Dauer und sollen euch zu den Freunden führen, die ihr beweint, und welche sich über euer Eintreffen bei ihnen freuen und euch die Arme entgegenstrecken, um euch an den Ort zu führen, zu dem die irdischen Leiden keinen Zutritt haben. (François de Genève, Bordeaux)



Freiwillige Prüfungen – Die wahre Aufopferung



26. Ihr fragt, ob es erlaubt ist, seine eigene Prüfung zu mildern. Diese Frage gleicht dieser anderen: Ist es demjenigen, der ertrinkt, erlaubt sich zu retten? Demjenigen, dem ein Dorn eingeschlagen ist, ihn zu entfernen? Demjenigen, der krank ist, den Arzt zu rufen? Die Prüfungen haben als Ziel, die Intelligenz auszubilden, wie auch die Geduld und die Ergebung. Ein Mensch kann in einer schmerzlichen und schwierigen Lage geboren werden, gerade um ihn zu zwingen, die Mittel zu suchen, um seine Schwierigkeiten zu bewältigen. Das Verdienst besteht darin, die Konsequenzen der Leiden, die man nicht vermeiden kann, ohne zu murren zu ertragen; den Kampf nicht aufzugeben; nicht zu verzweifeln, falls man keinen Erfolg hat, aber nicht aus Nachlässigkeit etwas geschehen zu lassen, das wäre Faulheit und keine Tugend.



Diese Frage führt uns natürlich zu einer anderen: Da ja Jesus sagte: „Selig sind die Leidenden“, ist es somit verdienstvoll, den Kummer zu suchen, um durch freiwilliges Leiden die eigenen Prüfungen zu verschlimmern? Diese Frage werde ich ganz deutlich beantworten: – Ja, es ist ein großes Verdienst, wenn mit den Leiden und durch die Entbehrungen das Wohl des Nächsten bezweckt wird, denn dann geschieht es durch die Aufopferung aus Nächstenliebe; aber nicht, wenn damit eigene Ziele verfolgt werden, denn dann ist es Egoismus durch Fanatismus.



Hier ist eine große Unterscheidung zu machen. Für euch persönlich, seid zufrieden mit den Prüfungen, die Gott euch schickt und vergrößert die Last nicht, die doch manchmal schon so schwer ist. Nehmt sie an, ohne zu murren und mit Glauben, dies ist alles, worum ER euch bittet. Schwächt euren Körper nicht mit unnützen Entbehrungen und Kasteiungen ohne Zweck, denn ihr habt eure ganzen Kräfte nötig, um eure Mission der Arbeit auf Erden zu erfüllen. Euren Körper freiwillig zu foltern und zu quälen hieße, das Gesetz Gottes zu übertreten, welches euch das Mittel gibt, ihn zu unterstützen und ihn zu stärken; ihn unnötig zu schwächen wäre wahrer Selbstmord. Benutzt, aber missbraucht nicht: so ist das Gesetz. Der Missbrauch der besten Sachen erwirkt die Bestrafung als unvermeidliche Konsequenz.



Ganz anders ist das Leid, das man sich auferlegt, um den Nächsten zu entlasten. Wenn ihr die Kälte und den Hunger ertragt, um denjenigen zu wärmen und zu ernähren, der es nötig hat, und wenn euer Körper darunter leidet, ist das eine von Gott gesegnete Aufopferung. Ihr, die ihr eure wohlriechenden Wohnräume verlasst, um Tröstung in die scheußliche Mansarde zu bringen; ihr, die ihr eure zarten Hände beschmutzt, um Wunden zu behandeln; ihr, die ihr auf das Schlafen verzichtet, um am Bett eines Kranken zu wachen, der für euch ein Bruder vor Gott ist; ihr, die ihr letztendlich eure Gesundheit bei der Ausübung guter Taten aufs Spiel setzt; hier ist eure Aufopferung, die wahre gesegnete Aufopferung, weil die Freuden dieser Welt eure Herzen nicht verhärtet haben. Ihr habt euch nicht von der aufreibenden Wollust eures Vermögens einschläfern lassen, sondern ihr habt euch zu tröstenden Engeln der Bedürftigen gemacht.



Aber ihr, die ihr euch von der Welt zurückzieht, um ihren Verführungen zu entgehen und von allem isoliert zu leben, welches ist euer Nutzen auf der Erde? Und wo ist euer Mut bei den Prüfungen, da ihr dem Kampf entflieht und desertiert? Falls ihr eine Kasteiung wollt, wendet sie bei eurer Seele an und nicht bei eurem Körper; kasteit euren Geist und nicht euer Fleisch; geißelt euren Stolz; empfangt die Erniedrigungen ohne zu klagen; kasteit eure Eigenliebe; stärkt euch gegen den Schmerz der Beschimpfungen und Verleumdungen, der stechender ist als körperlicher Schmerz. Hier ist die wahre Aufopferung, deren Verletzungen euch angerechnet werden, weil sie euren Mut und eure Unterwerfung unter Gottes Willen bezeugen. (Ein Schutzengel, Paris, 1863)



27. Soll man den Prüfungen des Nächsten ein Ende setzen, wenn man es kann, oder soll man sie aus Respekt vor dem Plan Gottes ihren Lauf nehmen lassen?



Wir haben euch gesagt und öfter wiederholt, dass ihr auf dieser Erde der Sühne seid, um eure Prüfungen zu beenden und dass alles, was euch zustößt, eine Folge eurer vorherigen Existenzen ist, der Anteil der Schuld, den ihr bezahlen müsst. Dieser Gedanke aber ruft bei einigen Personen Überlegungen hervor, die bekämpft werden müssen, da sie verhängnisvolle Folgen haben könnten.



Einige denken, weil man auf der Erde ist, um zu sühnen, müssen die Prüfungen ihren Lauf nehmen. Es gibt sogar einige, die denken, dass wir nichts machen sollen, um sie zu mildern, sondern im Gegenteil dazu beitragen, sie nützlicher zu machen, indem man sie erschwert. Dies ist ein großer Irrtum. Ja, eure Prüfungen sollen den Lauf nehmen, den Gott für sie geplant hat. Kennt ihr aber diesen Lauf? Wisst ihr, bis zu welchem Punkt die Prüfungen gehen sollen, und ob euer barmherziger Vater zu dem Leid dieser oder jener eurer Brüder und Schwestern nicht gesagt hat: „Stopp! Weiter nicht“? Wisst ihr, ob SEINE Vorsehung euch auserwählt hat, nicht als Instrument der Qual, um das Leid des Schuldigen zu erschweren, sondern als Balsam des Trostes, der die Wunden heilen soll, die SEINE Gerechtigkeit geöffnet hatte? Sagt also nicht, wenn ihr einen eurer betroffenen Brüder und Schwestern seht: „Dies ist die Gerechtigkeit Gottes und es ist notwendig, dass sie ihren Lauf nimmt“. Sagt euch im Gegenteil: „Ich sehe mal, welches Mittel der barmherzige Vater mir zur Verfügung gestellt hat, um das Leid meines Bruders und meiner Schwestern zu mildern. Ich will sehen, ob meine moralischen Tröstungen, meine materielle Unterstützung, meine Ratschläge ihm nicht helfen könnten, diese Prüfung mit mehr Kraft, Geduld und Gelassenheit zu bestehen. Ich will sogar schauen, ob Gott mir nicht das Mittel in die Hände gelegt hat, diesem Leid ein Ende zu setzen; ob es mir sogar als Prüfung gegeben worden ist, oder vielleicht als Sühne, das Leiden zu beenden und es durch Frieden zu ersetzen.



Helft euch stets bei euren jeweiligen Prüfungen und betrachtet euch nie als Instrument der Qual. Dieser Gedanke soll jeden guten Menschen, insbesondere jeden Spiritisten empören; denn der Spiritist soll die unendliche Ausdehnung der Güte Gottes besser als alle anderen verstehen. Der Spiritist soll denken, dass sein ganzes Leben eine Handlung der Liebe und Hingabe sein soll, und dass, egal was er auch macht, um den Entscheidungen des Herrn entgegenzutreten, SEINE Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt. Er kann sich daher ohne Furcht alle Mühe geben, um die Bitterkeit seiner Sühne zu mildern, wohl wissend, dass nur Gott sie beenden oder verlängern kann, je nachdem wie ER es für nötig hält.



Wäre es nicht ein großer Hochmut seitens des Menschen, sich sozusagen das Recht zu nehmen, die Waffe in die Wunde hineinzustoßen; die Giftmenge in der Brust des Leidenden unter dem Vorwand zu erhöhen, dass dies seine Sühne ist? Oh! Betrachtet euch immer als ein erwähltes Instrument, um das Leid zu beenden.



Fassen wir also zusammen: Ihr seid alle auf der Erde, um zu sühnen; ihr alle aber, ohne Ausnahme, sollt euch bemühen, die Sühne eurer Brüder und Schwestern zu mildern, gemäß dem Gesetz der Liebe und der Nächstenliebe. (Bernardin, Schutzgeist, Bordeaux, 1863)



28. Ein Mensch ringt mit dem Tode, Opfer von grausamen Schmerzen. Man weiß, dass sein Zustand hoffnungslos ist. Ist es erlaubt, ihm einige Momente der Angst zu ersparen, indem man sein Ende beschleunigt?



Wer würde euch das Recht geben, Gottes Vorhaben zu beurteilen? Kann ER nicht den Menschen bis an den Rand des Grabes führen, ihn dann von dort wieder weg ziehen, um ihm zu gewähren, zu sich selbst zu finden und seine Denkweise zu verändern? Egal zu welchem Endpunkt ein Sterbender auch gekommen sei, es kann keiner mit Sicherheit sagen, dass seine letzte Stunde gekommen ist. Hat sich die Wissenschaft noch niemals in ihren Prognosen geirrt?



Ich weiß wohl, dass es Fälle gibt, die man mit Recht als hoffnungslos betrachten kann; wenn es aber keine begründete Hoffnung mehr gibt auf Rückkehr zum Leben und zur Gesundheit, gibt es nicht doch unzählige Beispiele dafür, dass im Moment des Sterbens, beim letzten Seufzer, der Kranke erwacht und seine Fähigkeit für einige Momente wiederbekommt? Also, diese Stunde der Gnade, die ihm gewährt wird, kann von größter Bedeutung für ihn sein; denn ihr wisst nicht, welche Überlegungen sein Geist bei den Zuckungen des Todeskampfes machen konnte und welche Qualen ihm ein Blitz der Reue ersparen kann.



Der Materialist, der nur den Körper sieht und die Seele nicht berücksichtigt, kann diese Dinge nicht verstehen; der Spiritist aber, der weiß, was jenseits des Grabes passiert, kennt den Wert des letzten Gedankens. Lindert die letzten Schmerzen, soweit ihr könnt, hütet euch aber davor, das Leben zu verkürzen, auch wenn es sich nur um eine Minute handelt, denn diese Minute kann viele Tränen in der Zukunft ersparen. (Sankt Ludwig, Paris, 1860)



29. Derjenige, der die Lust am Leben verloren hat, es aber nicht selbst beenden möchte, wird er schuldig, indem er den Tod auf einem Schlachtfeld sucht, mit der Absicht, seinen Tod nützlich zu machen?



Ob der Mensch sich selbst tötet oder sich töten lässt, das Ziel ist immer noch, das Leben zu beenden, und somit besteht die Absicht des Selbstmordes, wenn nicht sogar die Tatsache.



Der Gedanke, dass sein Tod nützlich wäre, ist trügerisch; dies ist nichts anderes als ein Vorwand, um seine Handlung zu beschönigen und vor seinen eigenen Augen zu entschuldigen. Wenn er im Ernst den Wunsch gehabt hätte, seinem Land zu dienen, würde er eher leben wollen, um es zu verteidigen, anstatt zu sterben, denn als Toter kann er seinem Land nicht mehr nützlich sein. Die wahre Aufopferung beruht darin, keine Angst vor dem Tod zu haben, wenn es sich darum handelt, nützlich zu sein, der Gefahr zu trotzen, vorzeitig und ohne Reue sein Leben zu opfern, falls dies nötig ist. Den Tod aber vorsätzlich zu suchen, indem man sich einer Gefahr aussetzt, selbst um einen Dienst zu erweisen, annulliert das Verdienst dieser Handlung. (Sankt Ludwig, Paris, 1860)



30. Wenn ein Mensch sich einer bevorstehenden Gefahr aussetzt, um das Leben eines seiner Mitmenschen zu retten, vorher wissend, dass er selbst sterben wird, kann dann seine Handlung als Selbstmord betrachtet werden?



Sofern nicht beabsichtigt wird, den Tod zu suchen, handelt es sich nicht um Selbstmord, sondern um Aufopferung und Opferbereitschaft, trotz der Gewissheit, dass man dabei umkommen wird. Wer aber kann diese Gewissheit haben? Wer sagt denn, dass die göttliche Vorsehung für den gefährlichsten Augenblick nicht ein unerwartetes Mittel der Rettung bereit hält? Kann die göttliche Vorsehung nicht sogar denjenigen retten, der sich direkt vor dem Kanonenrohr befindet? Manchmal kann die göttliche Vorsehung eine Prüfung der Hingebung bis zum Äußersten führen und plötzlich verhindert ein unerwarteter Umstand den tödlichen Schlag. (Sankt Ludwig, Paris, 1860)


31. Arbeiten diejenigen, die ihre Leiden mit Gelassenheit annehmen, sich mit der Aussicht auf zukünftiges Glück dem Willen Gottes unterwerfen, nur für sich selbst, oder können ihre Leiden auch für andere nützlich sein?


Diese Leiden können für andere nützlich sein: materiell und moralisch. Materiell, wenn sie durch die Arbeit, die Entbehrungen und die Opferbereitschaft, die sie sich auferlegen, zum materiellen Wohl des Nächsten beitragen. Moralisch durch ihr Beispiel, das sie mit der Gehorsamkeit dem Willen Gottes gegenüber geben. Dieses Beispiel der Kraft des spiritistischen Glaubens kann die Unglücklichen zur Hingebung ermutigen, sie vor der Verzweiflung und deren verhängnisvollen Folgen für die Zukunft retten. (Sankt Ludwig, Paris, 1860)