DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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Wirkung des Gebets / Gedankenübertragung

9. Das Gebet ist eine Anrufung, mittels derer der Mensch – durch den Gedanken – in Verbindung mit dem Wesen tritt, an das er sich richtet. Es kann eine Bitte, einen Dank oder eine Verherrlichung beinhalten. Wir können für uns selbst oder für einen anderen beten, für die Lebenden oder für die Verstorbenen. Die an Gott gerichteten Gebete werden von den Geistern gehört, die damit beauftragt sind, den Willen Gottes auszuführen; jene, die an die guten Geister gerichtet sind, werden an Gott weitergeleitet. Wenn man zu anderen Wesen betet anstatt direkt zu Gott, sind sie nichts anderes als Vermittler oder Fürbitter, denn nichts kann ohne den Willen Gottes geschehen.


10. Der Spiritismus macht die Wirkung des Gebets verständlich, indem er die Art der Übermittlung des Gedankens erklärt, sei es, dass das angerufene Wesen auf unseren Appell hin kommt oder dass es von unseren Gedanken erreicht wird. Um zu verstehen, was unter solchen Umständen geschieht, müssen wir uns vorstellen, dass alle inkarnierten und nicht inkarnierten Wesen in das universelle Fluidum, das das Weltall ausfüllt, eingetaucht sind, so wie wir in dieser Welt uns innerhalb der Atmosphäre befinden. Dieses Fluidum bekommt von dem Willen einen Impuls; es ist der Träger des Gedankens, wie die Luft Träger des Tons ist, aber mit dem Unterschied, dass die Schwingungen der Luft begrenzt sind, während die des universellen Fluidums sich bis ins Unendliche ausdehnen. Wenn daher ein Gedanke an irgendein Wesen gerichtet wird, sei es auf der Erde oder im All, von Inkarnierten an Nichtinkarnierte, oder umgekehrt, bildet sich eine fluidale Strömung von einem zum andern, indem es die Gedanken übermittelt wie die Luft den Ton.


Die Energie der Strömung steht im Verhältnis zu jener des Gedankens und des Willens. Auf diese Weise wird das Gebet von den Geistern überall gehört, wo immer sie sich befinden; so kommunizieren die Geister unter sich, übermitteln uns ihre Eingebungen und so entstehen auch Beziehungen unter voneinander entfernten Inkarnierten.


Diese Erklärung ist vor allem an diejenigen gerichtet, die die Zweckmäßigkeiten des rein mystischen Gebets nicht verstehen können. Sie beabsichtigt nicht das Gebet gegenständlich darzustellen, sondern die Wirkung verständlich machen und zeigen, dass es eine direkte und positive Wirkung haben kann. Es bleibt jedoch dem Willen Gottes untergeordnet, dem höchsten Richter aller Dinge, der allein daraus eine effektive Wirkung entstehen lassen kann.


11. Durch das Gebet erbittet der Mensch den Beistand der guten Geister, die zu ihm kommen, um ihn bei seinen guten Entschlüssen zu unterstützen und ihm gute Gedanken einzugeben. Er gewinnt so die notwendige moralische Kraft, um seine Schwierigkeiten zu überwinden und auf den richtigen Weg zurückzukehren, falls er davon abgekommen ist; und dadurch kann er auch alle Übel von sich abwenden, die er sonst durch die eigenen Fehler auf sich zieht. Ein Mensch z.B. sieht durch Exzesse seine Gesundheit ruiniert und bis ans Ende seiner Tage verbringt er ein Leben voller Leiden. Hat er das Recht sich zu beschweren, wenn er keine Heilung bekommt? Nein, denn er hätte durch das Gebet die Kraft finden können, den Versuchungen zu widerstehen.


12. Wenn wir das Elend des Lebens in zwei Kategorien einteilen, indem eine Kategorie jene ist, die der Mensch nicht vermeiden kann und die andere die Drangsale sind, die er selbst durch seine Nachlässigkeiten und seine Exzesse verursacht hat (Siehe Kapitel V, Nr. 4), dann werden wir sehen, dass diese letzte Kategorie zahlenmäßig die erste bei weitem übertrifft. Es wird daher deutlich, dass der Mensch selbst der Verursacher des größten Teils seiner Bekümmernisse ist, und dass er sich diese ersparen könnte, wenn er immer mit Weisheit und Vorsicht handeln würde.



Nicht weniger sicher ist auch, dass diese Leiden das Ergebnis unserer Verstöße gegen die Gesetze Gottes sind und dass wir vollkommen glücklich sein könnten, wenn wir diese Gesetze genau beachten würden. Falls wir die Grenzen des Notwendigen für die Befriedigung unserer Bedürfnisse nicht überschreiten würden, hätten wir nicht die Krankheiten, die die Folge der Exzesse sind und würden auch nicht die Schicksalsschläge des Lebens erleiden, die diese Krankheiten nach sich ziehen. Falls wir unseren Ambitionen Grenzen setzen würden, brauchten wir den Ruin nicht zu fürchten. Falls wir nicht höher steigen wollten als wir können, brauchten wir den Fall nicht zu befürchten. Falls wir demütig wären, müssten wir die Enttäuschungen des erniedrigten Hochmuts nicht erleiden. Falls wir das Gesetz der Nächstenliebe anwenden würden, wären wir weder verleumderisch noch neidisch noch eifersüchtig, und wir würden Streit und Zwistigkeiten vermeiden. Falls wir niemandem etwas zuleide tun würden, brauchen wir auch keine Rache zu fürchten, etc.


Nehmen wir an, dass der Mensch gar nichts gegen die anderen Leiden tun könnte, dass jegliche Gebete überflüssig wären, um sich davor zu hüten; wäre es nicht schon sehr viel, von jenen befreit zu werden, die aus dem eigenen Verhalten entstanden sind? In diesem Fall ist eine Wirkung des Gebets leicht vorstellbar, weil es bezweckt, die heilsame Inspiration der guten Geister zu erbitten, sie um die notwendige Kraft zu bitten, um den schlechten Gedanken Widerstand leisten zu können, die sehr verhängnisvoll für uns sein können, wenn wir sie ausführen. In diesem Fall ist es nicht das Böse, das sie abwenden, sondern sie lenken uns selbst von bösen Gedanken ab, die Schaden zufügen können. Sie beeinträchtigen keinesfalls die Pläne Gottes, sie heben auch nicht den Lauf der Naturgesetze auf, sondern sie hindern uns daran, diese Gesetze zu übertreten, indem sie unseren freien Willen lenken. Sie tun das, ohne dass wir es merken, auf eine verborgene Art, um unseren freien Willen nicht zu unterdrücken. Der Mensch befindet sich dann in der Position desjenigen, der die guten Ratschläge erbittet und sie in die Praxis umsetzt, stets aber die Freiheit behält, sie zu befolgen oder nicht. Gott möchte es so, damit er die Verantwortung für seine Handlungen trägt und somit auch das Verdienst seiner Wahl zwischen Gutem und Bösem. Dies ist es, was der Mensch immer bekommen wird, wenn er mit Inbrunst darum bittet und worauf man diese Worte anwenden kann: „Bittet und ihr werdet erhalten“.


Die Wirksamkeit des Gebets, selbst wenn es auf dieses Maß reduziert wäre, hätte es nicht ein überragendes Ergebnis? Es war dem Spiritismus vorbehalten, uns seine Wirkung durch die Enthüllung der Beziehungen zu beweisen, die zwischen der physischen und geistigen Welt existieren. Aber seine Wirkung beschränkt sich nicht allein darauf.


Das Gebet wird von allen Geistern empfohlen. Auf das Gebet zu verzichten, bedeutet die Güte Gottes zu verkennen; das heißt, für sich selbst auf SEINEN Beistand zu verzichten und für die andern auf das Gute, das man für sie tun könnte.


13. Indem Gott einer Bitte stattgibt, die man an IHN richtet, hat ER oft vor, die Absicht, die Aufopferung und den Glauben desjenigen, der betet, zu belohnen. Deshalb ist das Gebet eines guten Menschen verdienst- und wirkungsvoller in den Augen Gottes, als das der schlechten und bösen Menschen, die nicht mit der gleichen Inbrunst und dem Vertrauen beten können, da dies nur aus dem Gefühl der wahren Barmherzigkeit entstehen kann. Aus dem Herzen des Egoisten, also von demjenigen, der nur mit den Lippen betet, können nur Worte kommen, aber keine Signale von Nächstenliebe, die dem Gebet seine ganze Kraft geben. Das ist einem so verständlich, dass man es instinktiv vorzieht, sich der Fürbitte derjenigen zu empfehlen, bei denen man erkennt, dass ihr Verhalten Gott zu gefallen scheint, weil sie eher erhört werden.



14. Wenn das Gebet eine Art magnetische Wirkung ausübt, könnte man glauben, dass sein Effekt der fluidalen Kraft untergeordnet ist, aber so ist es nicht. Da die Geister diese Wirkung auf die Menschen ausüben, ergänzen sie, wenn nötig, die Unzulänglichkeit desjenigen, der betet, sei es durch eine direkte Handlung in seinem Namen oder indem sie ihm vorübergehend eine außergewöhnliche Kraft verleihen, wenn er für diese Wohltat für würdig gehalten wird oder wenn dies ihm nützlich sein kann.


Der Mensch, der sich für nicht gut genug hält, um einen heilsamen Einfluss auszuüben, darf deswegen nicht darauf verzichten, für andere zu beten, nur weil er denkt, nicht würdig zu sein, erhört zu werden. Seiner Unwürdigkeit bewusst zu sein ist ein Anzeichen von Demut, und dies ist Gott immer angenehm, der die barmherzige Absicht in Betracht zieht, die den Menschen zum Beten anregt. Sein Eifer und sein Vertrauen sind ein erster Schritt in Richtung Umkehr zum Guten, zu dem die guten Geister ihn gern ermuntern. Das Gebet, das abgelehnt wird, ist jenes des Hochmütigen, der nur an seine Macht und seine Verdienste glaubt, und meint, sich über den Willen des Ewigen hinwegsetzen zu können.


15. Die Kraft des Gebets liegt im Gedanken; sie hängt weder von den Worten noch von dem Ort noch von dem Moment, in dem es gesprochen wird, ab. Man kann also überall beten und zu jeder Stunde, allein oder zusammen. Der Einfluss des Ortes oder der Zeit hängt von den Umständen ab, die die Zurückgezogenheit begünstigen können. Das gemeinsame Gebet hat eine stärkere Wirkung, wenn alle, die es sprechen, sich aus dem Herzen heraus mit demselben Gedanken verbinden und das gleiche Ziel haben, dann ist es so, als ob viele zusammen und einstimmig rufen würden. Aber was bedeutet es schon, in einer großen Anzahl von Menschen versammelt zu sein, wenn jeder isoliert und in eigenem Interesse handelt? Hunderte Personen können zusammen wie Egoisten beten, während zwei oder drei, verbunden durch das gleiche Streben, wie Brüder und Schwestern vor Gott beten werden und ihr Gebet wird mehr Kraft haben als das der hundert anderen. (Kap. XXVIII, Nr. 4 und 5)