DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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3. Das Gute zu tun, ohne zu prahlen, ist ein großes Verdienst; die gebende Hand zu verstecken, ist noch verdienstvoller. Dies ist ein unbestrittenes Zeichen von einer großen moralischen Überlegenheit; denn um die Dinge aus einer höheren Sicht zu betrachten, als der gewöhnliche Mensch es tut, ist es notwendig, das gegenwärtige Leben unberücksichtigt zu lassen und sich mit dem zukünftigen Leben zu identifizieren. Kurz gesagt, es ist notwendig, sich über die Menschheit zu stellen, um auf die Freude zu verzichten, die die Zeugenaussage der Menschen verschafft, und auf die Billigung Gottes zu warten. Derjenige, der den Beifall des Menschen mehr als die Zustimmung Gottes schätzt, beweist, dass er den Menschen mehr Vertrauen schenkt als Gott und dass das gegenwärtige Leben für ihn wichtiger ist als das zukünftige Leben. Wenn er das Gegenteil sagt, handelt er aber so, als ob er nicht an das glaubt, was er sagt.


Wie viele gibt es, die nur wohltätig sind, in der Hoffnung, dass der Empfänger der Wohltat diese ausposaunt; die am helllichten Tag eine große Summe, aber in der Verborgenheit kein einziges Geldstück geben würden! Deshalb sagte Jesus: „Diejenigen, die das Gute mit Prahlerei tun, haben bereits ihre Belohnung empfangen“; denn derjenige, der für das Gute das er tut, seine Verherrlichung auf der Erde sucht, hat sich selbst bereits belohnt. Gott schuldet ihm nichts mehr; ihm bleibt nur noch die Bestrafung für seinen Hochmut.


Lasst eure linke Hand nicht wissen, was eure rechte Hand gibt, ist eine bildliche Darstellung, die die bescheidene Wohltätigkeit vortrefflich charakterisiert. Wenn es aber die wahre Bescheidenheit gibt, existiert auch die vorgetäuschte Bescheidenheit, das Trugbild der Bescheidenheit, denn es gibt Menschen, die die gebende Hand verstecken, aber darauf achten, dass ein Teil davon sichtbar herausragt, und gleichzeitig beobachten sie, ob jemand gesehen hat, dass sie die Hand versteckt haben. Unwürdige Parodie der Lehre Jesu! Wenn die hochmütigen Wohltäter unter den Menschen schon verachtet werden, wie werden sie dann vor Gott da stehen? Sie haben ihre Belohnung bereits auf der Erde bekommen. Sie wurden gesehen und sie sind zufrieden damit, dass sie gesehen wurden. Und dies ist alles, was sie haben werden.


Welche Belohnung wird derjenige erhalten, der den Empfänger der Wohltaten damit belastet, indem er ihn auf irgendeine Art und Weise zum Beweis seiner Dankbarkeit zwingt, der ihn seine Position fühlen lässt, dadurch, dass er den Wert seines für ihn geleisteten Opfers preist. Oh! für diesen gibt es nicht einmal die irdische Belohnung, denn ihm wird die wahre Freude vorenthalten, dass sein Name gelobt wird, und dies ist die erste Strafe für seinen Hochmut. Die Tränen, die er zugunsten seiner Eitelkeit getrocknet hat, sind, anstatt zum Himmel hinaufzusteigen, auf das Herz des Leidenden gefallen und haben diesen tief verletzt. Das Gute, das er tut, bringt ihm nichts ein, da er es als Belastung benutzt, und alle mit Ansprüchen verbundenen Wohltaten sind eine Falschmünze und somit wertlos.


Die Wohltätigkeit ohne Prahlerei ist doppelt wertvoll: neben der materiellen Nächstenliebe ist sie auch eine moralische Nächstenliebe. Sie nimmt Rücksicht auf die Empfindlichkeit des Empfängers der Wohltätigkeit; sie lässt ihn die Wohltätigkeiten annehmen, ohne dass seine Selbstachtung darunter leidet, indem seine menschliche Würde gewahrt wird, denn dieser nimmt eher einen Dienst an, als ein Almosen. Einen Dienst in einen Almosen umzuwandeln, durch die Art wie man ihn erweist, bedeutet daher eine Demütigung für denjenigen, der ihn erhält; und einen andern zu demütigen ist immer ein Zeichen von Hochmut und Bosheit. Die wahre Nächstenliebe besteht deshalb darin, auf feinfühlige und einfallsreiche Art die Wohltat zu verbergen, selbst kleinste verletzende Anzeichen zu vermeiden; denn alle seelischen Verletzungen vergrößern das Leiden, das aus der Not entstanden ist. Die Nächstenliebe findet freundliche und nette Worte, die dem Wohltätigkeitsempfänger seine Befangenheit gegenüber dem Wohltäter nimmt, während die hochmütige Nächstenliebe ihn erdrückt. Das Erhabene der echten Großzügigkeit ist, wenn der Wohltäter die Rollen vertauscht, indem er einen Weg findet, selber als der Wohltätigkeitsempfänger gegenüber dem zu erscheinen, dem er den Dienst erweist. Das ist die Bedeutung dieser Worte: Lasst eure linke Hand nicht wissen, was eure rechte Hand gibt.