DAS EVANGELIUM AUS DER SICHT DES SPIRITISMUS

Allan Kardec

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2. Der Ungläubige lacht über dieses Gleichnis, das ihm wie kindliche Naivität vorkommt, denn er kann nicht verstehen, dass man so viele Schwierigkeiten machen kann, um an einem Festmahl teilzunehmen, und noch weniger, dass die Geladenen mit ihrem Widerstand soweit gehen, dass sie sogar die Gesandten des Hausherrn niedermetzeln. „Die Gleichnisse“, sagte der Ungläubige, „sind ohne Zweifel Allegorien“, trotzdem dürfen sie nicht die Grenzen der Glaubwürdigkeit überschreiten.
Man kann das Gleiche sagen von allen Allegorien und von findigen Fabeln, wenn man sie nicht von ihren Hüllen befreit, um den verborgenen Sinn zu finden. Jesus schöpfte seine Gleichnisse aus den Bräuchen des alltäglichen Lebens und passte sie an die Lebensgewohnheiten und den Charakter des Volkes an, zu dem Er sprach. Die meisten von ihnen hatten das Ziel, der Volksmenge die Vorstellung des geistigen Lebens nahe zu bringen. Der Sinn scheint oft unverständlich, weil man nicht von diesem Gesichtspunkt ausgeht.


In diesem Gleichnis vergleicht Jesus das Himmelreich, in dem überall Glück und Frieden herrscht, mit einem Hochzeitsmahl. Wenn Er von den ersten Geladenen spricht, bezieht Er sich auf die Hebräer, die Gott als erste zur Kenntnis seines Gesetzes gerufen hat. Die vom König gesandten Boten sind die Propheten, die die Hebräer ermahnten, dem Weg des wahren Glücks zu folgen. Ihre Worte wurden jedoch wenig gehört; ihre Warnungen wurden verachtet; viele wurden wirklich niedergemetzelt wie die Diener im Gleichnis. Die Geladenen, die sich unter dem Vorwand entschuldigten, dass sie ihre Felder bearbeiten und auf ihre Geschäfte achten müssten, symbolisieren die Menschen der Erde, denen, absorbiert von den irdischen Dingen, die himmlischen Dinge gleichgültig sind.


Die Juden der damaligen Zeit glaubten, dass ihre Nation die Oberherrschaft über alle anderen Nationen bekommen sollte. Denn hatte Gott nicht dem Abraham versprochen, dass seine Nachkommenschaft die ganze Erde bedecken wird? Aber, indem sie die Form für den Inhalt hielten, glaubten sie an eine wirkliche und materielle Herrschaft.


Bevor Christus kam, waren alle Völker, mit Ausnahme der Hebräer, Götzendiener und Polytheisten (Vielgötterei). Wenn einige, dem gemeinen Volk überlegenen Menschen, erkannt hatten, dass es nur einen einzigen Gott gab, blieb dies deren persönliche Lehre, die aber nirgends als eine grundlegende Wahrheit akzeptiert wurde; außer von einigen Eingeweihten, die ihre Kenntnisse unter einem geheimnisvollen Schleier versteckten, undurchschaubar für die Masse. Die Hebräer waren die ersten, die den Monotheismus öffentlich ausübten; ihnen hat Gott SEIN Gesetz übermittelt; zuerst durch Moses, danach durch Jesus. Aus dieser winzigen Quelle kam das Licht hervor, das sich über die ganze Welt ausbreiten, über das Heidentum triumphieren, und Abraham eine geistige Nachkommenschaft so zahlreich wie die Sterne am Himmel geben sollte. Aber die Juden, die den Götzendienst ablehnten, hatten das moralische Gesetz vernachlässigt und sich der weniger anspruchsvollen Ausübung des äußerlichen Kults zugewandt. Das Böse hatte den Gipfel erreicht. Die unterdrückte Nation wurde in verschiedene Gruppen zerrissen, durch Sekten aufgeteilt. Selbst die Ungläubigkeit war bereits in das Sanktuarium eingedrungen. Zu diesem Zeitpunkt erschien Jesus, gesandt, um sie zur Befolgung des Gesetzes zurückzurufen und ihnen neue Horizonte des zukünftigen Lebens zu eröffnen. Als erste zum Festmahl des universellen Glaubens eingeladen, wiesen sie die Worte des himmlischen Messias ab und töteten Ihn. Damit verloren sie die Frucht, die sie mit ihrer Initiative ernten sollten.


Es wäre jedoch ungerecht, das ganze Volk für dieses Ereignis zu verurteilen. Die Verantwortung lag hauptsächlich bei den Pharisäern und bei den Sadduzäern, die die Nation zugrunde gerichtet hatten, aufgrund des Stolzes und Fanatismus der einen und aufgrund der Ungläubigkeit der andern. Sie sind es vor allem, die Jesus mit den Geladenen vergleicht, die es ablehnten, dem Hochzeitsmahl beizuwohnen. Danach fügte Er hinzu: „Als der Herr das sah, befahl er, dass sie alle, die sie an den Straßenkreuzungen antreffen, Gute und Böse, einladen sollten“. Er wollte damit zu verstehen geben, dass das Wort allen Völkern gepredigt würde: Heiden und Götzendienern, und dass jene, die die Einladung annähmen, beim Hochzeitsmahl zugelassen würden, anstelle der Erstgeladenen.


Aber es genügt nicht, eingeladen zu sein; es genügt nicht, sich Christ zu nennen, auch nicht, sich an den Tisch des himmlischen Festmahls zu setzen. Vor allem ist es eine notwendige und unerlässliche Voraussetzung, das Hochzeitskleid anzulegen, das heißt, ein reines Herz zu haben und das Gesetz im Sinne des Geistes zu praktizieren. Dieses Gesetz ist also in diesen Worten enthalten: Außerhalb der Nächstenliebe gibt es kein Heil. Aber unter all denen, die das göttliche Wort hören, wie wenige sind es, die es bewahren und in die Tat umsetzen! Wie wenige sind würdig, in das Himmelsreich einzutreten! Deshalb sagte Jesus: „Viele sind gerufen, aber nur wenige auserwählt“.